Tibet-Encyclopaedia

 

Ali Sher Khan (II) (Herrscher von Skardu in Baltistan bzw. Kleintibet)

Ali Sher Khan (II) war ein Herrscher von Skardu, der in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts regierte. Er war Nachfolger von Mohammad Zafar Khan und der Vater von Ahmad Shah des letzten unabhängigen Königs von Baltistan. Er gehörte der  Makpon-Herrscherfamilie von Skardu an. In seine Regierungszeit fällt ein von Kaschmir aus auf Befehl von Haji Karim Dad Khan durchgeführter räuberischer Einfall von beutehungrigen Afghanen in Baltistan und ein Krieg gegen Khaplu im Jahre 1785, den er mit seinen Verbündeten aus Shigar durchführte. Dieser Krieg endete für ihn mit einer Niederlage gegen die ladakhischen Truppen in der Schlacht von Daghoni.

Ali Sher Khan wird in Cunninghams Liste der „Gyalpos of Balti“ als 7. Herrscher von Skardu verzeichnet (Cunnigham, S. 325). Den ersten Hinweis auf Ali Sher Khan (II), der nicht mit dem namensgleichen bedeutendsten König von Baltistan verwechselt werden darf, der um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert regierte, verdanken wir Godfrey Thomas Vigne (S. 254). Vigne traf 1835 zum ersten Mal mit Ahmad Shah, dem Sohn von Ali Sher Khan (II) zusammen. Vigne berichtet, Ali Sher Khan habe Shigar erobert und Soldaten einer Invasionsarmee aus Ladakh gefangen genommen. Was die erste dieser beiden Aussagen betrifft, so ist natürlich angesichts der vorliegenden Quellenlage nicht auszuschließen, dass es unter diesem Herrscher zu einer allerdings nur kurzfristigen Besetzung von Shigar gekommen ist. Die zweite Aussage, nämlich die Gefangennahme von Soldaten aus Ladakh, kann sich nur auf seinen Sohn Ahmad Shah beziehen.

Historisch gesehen sind hier zwei Ereignisse zu nennen, die mit großer Wahrscheinlichkeit während der Regierungszeit Ali Sher Khans stattgefunden haben.

Das erste Ereignis war ein Raubüberfall von Afghanen aus Kaschmir, der nach dem Geschichtsschreiber Mohammad-du-Din Fouq 1779 stattgefunden haben soll (Fouq, S. 484f). Kaschmir war 1753 von Afghanen erobert worden und wurde von 1776 bis 1783 von dem als grausam und habgierig bekannten Gouverneur Haji Karim Dad verwaltet. Nach Fouq schickte Haji Karim Dad 1779 Murtaza Khan mit einer Truppe von Soldaten nach Skardu. Murtaza Khan soll nach einem heftigen Kampf Murad Khan, den Herrscher von Skardu, überwältigt haben und siegreich mit reichem Tribut und einer großen Zahl Gefangener nach Kaschmir zurückgekehrt sein. Diese von Fouq erst nach 1900, also über 120 Jahre nach den geschilderten Ereignissen, geschriebene Darstellung, die natürlich keine Quellenangaben enthält, wirft das Problem auf, dass 1779 in Skardu ein Herrscher mit Namen Murad Khan eigentlich nicht regiert haben kann. Der einzige in Frage kommende, namensgleiche fünfte Herrscher von Skardu (Zählung nach Cunningham, S. 35) Sultan Murad Khan war seit über 50 Jahren verstorben. Allerdings wurde in dieser Zeit das westlich von Skardu gelegene Rondu von einer Person namens Murad Khan regiert (Cunningham, S. 37). Wir können nicht entscheiden, ob hier nicht eine Namens- und/oder Ortsverwechselung stattgefunden hat.

Das zweite Ereignis datiert in das Jahr 1785 und ist durch eine kurz nach diesem  Ereignis im April/Mai des Jahres 1785 ausgefertigte Herrscherurkunde des ladakhischen Königs Tsheten Namgyel (Tshe-brtan rnam-rgyal) (1782-1802) belegt. Skardu und Shigar verbündeten sich, um gemeinsam Khaplu anzugreifen. Die darauf folgenden Geschehnisse werden in der Urkunde wie folgt geschildert (Schuh, S. 244-252; Schuh 1, S. 208f):

Abbildung 1: Zeilen 1-12 der Herrscherurkunde des ladakhischen Königs Tsheten Namgyel vom April/Mai 1785, welche den Krieg des gleichen Jahres zwischen Skardu und Shigar einerseits und Khaplu und Ladakh andererseits schildert 

 

Abbildung 2: Zeilen 7-17 der Herrscherurkunde des ladakhischen Königs Tsheten Namgyel vom April/Mai 1785, welche den Krieg des gleichen Jahres zwischen Skardu und Shigar einerseits und Khaplu und Ladakh andererseits schildert

 „Als im Holz-Schlange-Jahr (1785) die Landesteile der Balti (sBal-ti), wie Shigar (Shi-gar) und Skardu (sKar-mdo) usw., sich vereinigten und (von dort) eine große Armee aufbrach, errichteten sie in Balghar (Brag-dkar) eine neue Festung. Indem sie in Kiris (Kye-ris) und Kuru (Ku-ros) etc. die alten, bestehenden Festungen einnahmen und die Waffen konfiszierten, begannen sie, die Herrschaft von Khaplu (Kha-bu-lo) an sich zu reißen. Als daraufhin der Herrscher (Jo) Mohammad Ali Khan  (Ma-ma A-li mKhan), Vater und Sohn, ohne Schutz und hilflos waren, baten sie hier um Truppenhilfe.

Hieraufhin fungierten no-no Sönam Norbu (bSod-nams nor-bu) und no-no Chungngu (Chung-ngu) als Truppenführer und nahmen die Soldaten jenseits und diesseits des Nubra-Flusses zusammen mit den Truppen aus Chorbat (´Chor-sbar)  durch bloßes Überreden mit. Als sie in Daghoni (mDa´-ho-ni) ankamen, waren die gegnerischen Truppen in der Lage, einen den ganzen Tag dauernden Angriff durchzuführen. Zu dieser Zeit verzagte ihr Mut nicht und sie führten einen Sturmangriff durch. Dadurch wurden die gegnerischen Truppen zurückgeschlagen und man bekam die hergerichtete Festung (und) um die achtzig Männer zusammen mit der (Kriegs-)Ausrüstung in die Hände.“

Wir können davon ausgehen, dass der Krieg damit beendet war.

Literatur

Banat Gul Afridi: Baltistan in History. Peshawar 1988
John Biddulph: Tribes of the Hindoo Koosh. Reprint. New Delhi 2001
Alexander Cunningham: Ladák. Physical, statistical, and historical; with notices of the surrounding countries. New Delhi 1977 (reprint)
Mohammad-ud-Din Fouq: [Mukamal Tarikh-i-Kashmir] A Complete History of Kashmir. The Ancient Hindu Kings; The Muslim Kings; The Khalsa Kings. Translated by R. K. Bharti. Srinagar 2009
A.H. Francke: Antiquities of Indian Tibet. Part (Volume) II. The Chronicles of Ladakh and Minor Chronicles. Texts and Translations, with Notes and Maps. (Reprint) New Delhi 1972
Hashmatullah Khan: History of Baltistan. Lok Virsa Translation, Islamabad 1987. Das Original in Urdu wurde 1939 veröffentlicht
Dieter Schuh: Herrscherurkunden und Privaturkunden aus Westtibet (Ladakh), Halle 2008 (= Monumenta Tibetica Historica, Abteilung III. Diplomata, Epistolae et Leges, Band 11)
Dieter Schuh 1: Die Herrscher von Baltistan (Klein-Tibet) im Spiegel von Herrscherurkunden aus Ladakh. In: Chomolangma, Demawend und Kasbek. Festschrift für Roland Bielmeier zu seinem 65. Geburtstag. Band 1: Chomolangma, Halle 2008, S. 165-225
Godfrey Thomas Vigne: Travels in Kashmir, Ladakh, Iskardo. The Countries Adjoining the Mountain-Course of the Indus and the Himalaya North of the Punjab. Volume II, London 2005. Nachdruck der Ausgabe von 1842

Autor: Dieter Schuh, 2010

Für wissenschaftliche Zitationen benutzen Sie bitte nur die gedruckte Ausgabe/For scientific quotation please use the printed edition only.