Tibet-Encyclopaedia

 

 

 

   

 

 

Abbildung 1: Die Lage von Baltistan im äußersten Nord-Osten Pakistans. Quelle:  www.lib.utexas.edu/maps/kashmir.html

 

Abbildung 2: Der Karakorum-Highway (rot) von Islamad nach Sinkiang und die vom Highway nach Osten führende, 170 km lange Verbindungsstraße (schwarz) nach Skardu in Baltistan

Baltistan (Klein-Tibet)

Baltistan, früher auch Klein-Tibet (Little Tibet, Petit Tibet, Tibet Minor) genannt, ist eine Hochgebirgsregion im äußersten Nord-Osten Pakistans. Baltistan ist geprägt durch seine Lage in dem sich zwischen dem 35. und 36. nördlichen Breitengrad über ca. 650 km erstreckenden Karakorum, einem gewaltigen Gebirgsmassiv, zu dem mit dem K2 auch der zweithöchste Berg der Welt gehört. Weniger als 1 % der Gebietsfläche Baltistans umfasst bewässertes Kulturland, so dass diese Region, sieht man einmal von den an den Flüssen gelegenen Oasen und den alpinen Hochgebirgsweiden ab, im Wesentlichen aus unwirtlichem Hochgebirge und Wüsten besteht. Baltistan grenzt im Süden und Süd-Osten an Ladakh und im Süd-Westen an Kaschmir. Als westliche Nachbargebiete sind Chilas, Astor und Gilgit zu erwähnen. Im Nord-Westen finden sich Nagar und Hunza und im Norden und Nord-Osten grenzt diese Region an die Gebiete des heute von China verwalteten Sinkiang (Xinjiang) an. Baltistan ist von Islamabad, der Hauptstadt Pakistans, auf dem Luftweg zu erreichen. Der einzige Flugplatz von Baltistan befindet sich in Skardu. Ansonsten ist das Land seit Anfang der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts nur durch eine von Kraftfahrzeugen befahrbare Straße erreichbar. Diese verläuft von Skardu aus nach Westen entlang des Indus und verbindet auf 170 km Länge Baltistan mit dem westlich gelegenen sogenannten Karakorum-Highway, der von Islamabad aus den Norden Pakistans erschließt und nach Sinkiang führt. Die im Süden und Osten an das von Indien verwaltete Ladakh einschließlich Nubra  angrenzenden Gebiete sind militärische Sperrzonen und weitgehend unpassierbar. Die Hauptflüsse von Baltistan sind der Indus und der Shayok. Der Hauptteil der bewohnten Gebiete Baltistans liegt auf einer Höhe zwischen 2200 und 2500 Meter über dem Meeresspiegel.

Innerhalb Pakistans gehörte Baltistan zu den sogenannten „Northern Areas“. Heute wird dieses Gebiet als Gilgit-Baltistan bezeichnet. Allerdings ist der verfassungsrechtliche Status von Gilgit-Baltistan im Rahmen der Verfassung des Staates Pakistan nicht eindeutig definiert. Baltistan ist aufgeteilt in den Skardu- und den Gangche-Distrikt. Der Skardu-Distrikt umfasst die ehemaligen Königreiche Rondu, Shigar, Skardu und Kartaksho (Kharmang). Zum Gangche-Distrikt gehören die alten Herrschaftsgebiete Khaplu und Kiris. Die Einwohner Baltistans sprechen eine tibetische Sprache und verwenden als Schriftsprache Urdu, die Amtssprache von Pakistan. Die Balti bekennen sich zum Islam. In ihrer Mehrheit sind sie Schiiten. Im Jahre 1911 zählte man in Baltistan ca. 100.000 Einwohner. Nach der Volkszählung von 1998 lebten im Skardu-Distrikt 215.000 und im Gangche-Distrikt 88.000 Personen, was eine Gesamtzahl an Einwohnern von Baltistan von 303.000 ergibt. 2007 wurden in ganz Baltistan 385.000 Einwohner gezählt. Angesichts eines dramatischen Bevölkerungswachstums von durchschnittlich 2,5 % pro Jahr dürfte die Anzahl der Bewohner heute die Zahl von 400.000 überschritten haben, wobei der größte Teil des für die Zeit nach 1911 zu verzeichnenden Bevölkerungswachstums auf den Zeitraum nach 1960 entfällt.

Baltistan zählte lange Zeit zu den ärmsten Gebieten innerhalb Pakistans. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat sich aber der Unterschied des Lebensstandards in Gilgit-Baltistan zu dem des Südens von Pakistan erheblich verkleinert. Diese Feststellung soll aber nicht von der Tatsache ablenken, dass Baltistan zu den ärmsten Gebieten Asiens gehört. Zurzeit lebt 1/3 der Bevölkerung des Gangche-Distrikts unterhalb der für Pakistan definierten Armutsgrenze.

Gleichwohl besitzt dieses Land mit seinen landestypischen Moscheen, Khanqa-Gebetshallen, Astana-Grabmonumenten, Matam Serai-Gedenkhallen und stattlichen, schlossartigen Burgen zahlreiche Baudenkmäler, die als Sehenswürdigkeiten von internationaler Bedeutung einzustufen sind. 

Abbildung 3: Baltistan und seine sechs ehemaligen Königreiche Rondu (blau umrandet), Skardu (schwarz umrandet), Shigar (rot umrandet), Kiris (gelb umrandet), Khaplu (grün umrandet) und Kartaksho (violett umrandet).Ausschnitt aus einer vom Aga Khan Cultural Service Pakistan erstellten Übersichtskarte

Inhaltsverzeichnis

1. Verkehrserschließung nach außen und im Inneren
2. Ackerbau und Viehhaltung, Jagd und Fischfang, Handwerk, Handel und Bergbau
2.1. Feldanbau
2.2. Obst- und Gemüseanbau
2.3. Tierhaltung
2.4. Jagd und Fischfang
2.5. Handwerk
2.6. Handel und Bergbau
3. Politische Strukturen und Lebensbedingungen
3.1. Periode der bekannten Königreiche (16. Jahrhundert bis 1842)
3.1.1. Staat, Volksgruppe und Territorium
3.1.2. Die Herrscher und ihre Untertanen
3.1.2.1. Familiendynastien
3.1.2.2. Erbfolge
3.1.2.3. Landesteilungen
3.1.2.4. Nachfolgeregelungen
3.1.2.5. Inauguration der Thronanwärter
3.1.2.6. Genealogien
3.1.2.7. Charismatische Stellung der Herrscher
3.1.2.8. Moralische Leitregeln für die Herrschaftsausübung
3.1.2.9. Heiratspolitik
3.1.2.10. Die Rolle der Untertanen
3.1.3. Abwehr äußerer Gefahren, Kriege und ihre Folgen
3.1.4. Landesverwaltung, Steuern, Dienstleistungen, Lebensumstände der Bevölkerung 
3.1.5. Kulturelle Leistungen
3.2. Die Zeit der Dogra-Herrschaft (1842-1947)
3.3. Moderne Entwicklungsprobleme
4. Überblick über die Geschichte Baltistans
4.1. Die Suche nach einem Land, in dem kein Berichterstatter war: Die Periode bis zum 15. Jahrhundert
4.1.1. Palola: Groß- und Klein-Balūr, Bru-zha
4.1.2. Bewertung archäologischer Funde
4.2. Zur Islamisierung Baltistans
4.3. Periode vom 16. Jahrhundert bis 1842
4.4. Die Zeit der Dogra-Herrschaft und die Neuzeit
5. Literatur

1. Verkehrserschließung nach außen und im Inneren

Die Besonderheiten der geographischen Gegebenheiten Baltistans hatten großen Einfluss auf den Verlauf seiner Geschichte und sind auch für die heute bestehenden Entwicklungsmöglichkeiten von Bedeutung. Vergleicht man die Berichte von Reisenden des 19. und 20. Jahrhunderts über dieses Land mit dem heutigen Zustand von Baltistan, so sieht man, welche gewaltigen Veränderungen die Flugverbindung mit den übrigen Teilen von Pakistan und insbesondere der Bau der Straße  vom Karakorum Highway nach Skardu mit sich gebracht haben. Genauso so wichtig für die moderne Entwicklung des Landes war seine innere Erschließung durch den Bau von Straßen und Brücken über die Flüsse Indus und Shayok, die heute alle wichtigen Landesteile miteinander verbinden. Das gleiche gilt für die Versorgung vieler Orte mit Elektrizität.

Abbildung 4: Moderne Brücken über den Indus auf dem Weg ins Shigar-Tal (Oktober 2007)

   

Abbildung 5: Die Straße vom Karakorum Highway nach Skardu. Unten rechts der Indus (Oktober 2007)

 

Abbildung 6: Personenbeförderung auf der Straße nach Shigar (Oktober 2007)

Ein Nachteil, der auch für die Vergangenheit charakteristisch ist, besteht noch heute. Baltistan liegt an keiner Verkehrsader, durch die internationale Handelsströme verlaufen. In der Vergangenheit war es für das Land ein erheblicher Nachteil, dass durch Baltistan kein erwähnenswerter Handelsweg verlief, der die Seidenstraße mit dem indischen Subkontinent verband. Eine wichtige Nord-Süd-Anbindungen an die Seidenstraße verlief im Osten Baltistans von Zentralasien über den Karakorum-Pass nach Nubra und Ladakh und von dort aus nach Westen weiter nach Kaschmir und Indien. Dieser Handelsweg war von dem im Osten Baltistans gelegenen Khaplu aus mit großen Schwierigkeiten zwar für wenige Monate im Jahr erreichbar, doch war ein Weitertransport von hier aus nach Süden oder Westen angesichts der schwierigen Wegeverbindungen innerhalb Baltistans und der Teilung des Landes in untereinander zumeist feindlich gesinnte Herrschaftsgebiete über längere Zeiträume hinweg nicht praktikabel.

Eine weitere Verbindung von Baltistan nach Zentralasien verlief durch das Shigar- und Baraldu-Tal nach Askole. Von dort aus erreichte man entweder über den Baltoro-Gletscher den Mustagh-Pass, von dem aus man nach Norden weitereiste, um Yarkand zu erreichen. Arora (S. 208) beschreibt eine weitere Route über den Punmah(~Panmah)-Gletscher, die zum Mustagh-Pass führte. Conway benutzte einen Reiseweg, der ihn von Hunza und Nagar über den Hispar-Pass und den Biafo-Gletscher nach Askole führte.  

Abbildung 8: Reiserouten von Baltistan nach Norden: Der Weg von Askole über den Baltoro-Gletscher zum Mustagh-Pass (grün), die Route über den Punmah-Gletscher (blau) und Conways Route über den Biafo-Gletscher zum Hispar-Pass und nach Nagar und Hunza (rot).Ausschnitt aus "India and Pakistan" (Jammu and Kashmir) Ni-43-03. 1:250.000. Mundik

Alle diese Übergänge von Baltistan nach Norden wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts offenbar von Hunza aus kontrolliert. Dies ergibt sich aus dem Bericht von Godfrey Thomas Vigne, der während eines seiner Aufenthalte in Baltistan zwischen 1835 und 1838 den Versuch unternehmen wollte, den Mustagh-Pass zu überqueren. Sein Gastgeber Ahmad Shah schickte daraufhin zunächst einen Gesandten aus Hunza, der sich zu dieser Zeit zufällig in Skardu aufhielt, mit einigen Begleitern zum Herrscher von Hunza, um ein sicheres Geleit für Vigne sicherzustellen (Vigne, S. 379-382). 

Abbildung 9: Adolph Schlagintweit im Jahre 1856 auf dem Weg zum Mustagh-Pass. Ein Bild des Mustagh-Gletschers. Quelle: http://www.schlagintweit.de/brueder.htm

Die Reiserroute über Shigar nach Zentralasien wurde schon von dem Franzosen François Bernier erwähnt, der 1663 im Gefolge des Moghul-Kaisers Aurangzeb (1658-1707) nach Kaschmir reiste und berichtet, dass man von Shigar aus 30 Tage benötigte, um Kaschgar zu erreichen. Offenkundig wurde die sehr schwierige Route über den Mustagh-Pass in der Periode zwischen 1639 und ca. 1665 während der Regierungszeit der Skardu-Herrscher Adam Khan und Murad Khan von Handelskarawanen für den Warenverkehr zwischen Kaschmir und Zentralasien benutzt. In dieser Zeit  waren nämlich aus politischen Gründen von dem ladakhischen König Sengge Namgyel (Seng-ge rnam-rgyal) die Handelswege zwischen Ladakh und Kaschmir gesperrt worden (Petech, S. 51).  Diese Sperre bestand noch im Jahre 1663 fort, als François Bernier Kaschmir besuchte. Für eine stärkere Benutzung des Mustagh-Passes als Verbindung nach Zentralasien spricht auch ein Bericht in der Verschronik Shigar Nāma. Hiernach empfing Imam Quli Khan, der Herrscher von Shigar, in den 50er Jahren des 17. Jahrhunderts  die Schwester des Gouverneurs von Kaschgar, die mit großem Gefolge und mit einem Begleitschreiben des Moghul-Kaisers Shah Jahan sein Land durchreiste (Behrouz, S. 122ff). Offenkundig war die Dame auf dem Rückweg nach Kaschgar, wobei sie  den Weg über den Mustagh-Pass benutzt haben muss.

Es ist schwer zu beurteilen, inwieweit Baltistan von diesem Warenverkehr zwischen der Seidenstraße und Kaschmir profitierte. Vermutlich konnten die Herrscherhäuser von Shigar und Skardu Zölle erheben. Es ist aber davon auszugehen, dass mit dem Ausbruch des Krieges zwischen Sher Khan von Skardu und Imam Quli Khan von Shigar ab etwa 1670 eine sichere Durchreisemöglichkeit durch Baltistan für die Händler aus Kaschmir nicht mehr bestand. Da spätestens 1665 mit der Anerkennung der Suzeränität des Moghul-Reiches über Ladakh die Handelsblockade aufgehoben wurde, bestand auch keine Notwendigkeit mehr, den schwierigen Weg über den Mustagh-Pass der bequemeren Verbindung über den Karakorum-Pass vorzuziehen. 

   

Abbildung 10: Der Mustagh-Pass (links oben) im Jahre 1909 nach De Filippi

 

Abbildung 11: Die Festung von Askole nach De Filippi, 1909 photographiert

Abbildung 12: Weg von Arandu nach Gilgit über den Chogo Lungma-Gletscher (rot) und Route nach Hunza/Nagar zum nördlich gelegenen Hispar-Gletscher (blau). Ausschnitt aus "India and Pakistan" (Jammu and Kashmir) Ni-43-03. 1:250.000. Mundik

Eine weitere Route zwischen Shigar und Hunza/Nagar bzw. Gilgit  verlief durch das Basha-Tal bis Arandu. Von dort aus konnte man entweder nach Norden bis zum Hispar-Gletscher weiterreisen, um Hunza und Nagar zu erreichen, oder man wählte den Weg über den Chogo-Lungma-Gletscher und gelangte nach Gilgit.

Alle diese Verbindungen Baltistans mit Regionen nördlich und nordwestlich dieses Landes waren nur für wenige Monate im Sommer benutzbar. Interessant ist, dass die Karte „India and Pakistan" (Jammu and Kashmir) Ni-43-03. 1:250.000. Mundik“ sowohl in Askole als auch in Arandu jeweils eine Bergfestung verzeichnet. Diese Festungsanlagen dienten zweifellos dem Schutz des Königreiches Shigar vor räuberischen Überfällen insbesondere aus Hunza und Nagar. Ein Photo der Festung von Askole wurde von De Filippi während seiner Expedition im Jahre 1909 aufgenommen.

Die Wege von Shigar und Skardu zu den westlich von Baltistan gelegenen Ländern Gilgit und Astor führten durch Rondu. Allerdings waren die schwierigen Routen entlang des Indus im Sommer kaum benutzbar, weshalb man, um Astor zu erreichen, in dieser Jahreszeit von Skardu aus eine mehr südlich verlaufende Strecke durch das Hochgebirge benutzte, die etwa sechs Tage in Anspruch nahm. Diese Sommerstrecke wurde von  Neve (S. 117) wie folgt beschrieben: „ Zwei Tagesmärsche von Skardu nach Shigathang. Dann von Shigathang nach Ordokas 19,3 km. Für einige Kilometer leicht zu begehen. Dann folgt ein steiler, felsiger Anstieg bis zur Höhe von 3960 m. Kein Brennholz. Von Ordokas nach Chumik: 14,48 km. 6,4 km Aufstieg, steil und über Schnee bis zum Bank-Pass, 4.876 m. … Dann steiler Abstieg über 8 km und um 1.372 m Höhenunterschied nach Chumik, wo Brennholz erworben werden kann. Von Chumik nach Thingeh: 21,7 km. Über 9,6 km allmählicher Abstieg bis zum rechten Ufer des Herpo Nullah. Dann 2,4 km bis zu einer bewaldeten Ebene. Dann auf 3,2 km ein leichter Weg, der danach schwieriger wird bis zum Dorf Gutumsar. Weiter 3,2 km bis zum Dorf Thingeh, das auf 2.438 m Höhe liegt. Von Thingeh nach Astor:  22,5 km. Für 11,2 km ein leichter Weg durch viele Siedlungen, dann schwierig über 3,2 km und wiederum leicht für weitere 3,2 km. Dann folgt ein steiler Abstieg. Überquere den Astor-Fluss und steige zur Bergfestung auf. Dann überquert man ein Schlucht bis zum Bungalow.“ Weitere Details zu dieser Route sind auch dem Artikel über Rondu zu entnehmen (siehe dort Abbildungen 10a und 10b).

Abbildung 13: Sommerreiseweg von Skardu nach Astor (blau) und von Skardu über den Satpara-See und die Deosai-Hochebene nach Kaschmir (rot). Ausschnitt aus "India and Pakistan" (Jammu and Kashmir) Ni-43-03. 1:250.000. Mundik

Während man von Rondu aus auch nach Kaschmir weiterreisen konnte, verlief die Hauptverbindung zwischen Skardu und Kaschmir über die Deosai-Hochebene, eine unwirtliche, unbewohnte Ebene auf einer Höhe von durchschnittlich 4.100 m, die man aber ebenfalls nur wenige Monate im Jahr überqueren konnte. Für den Weg von Skardu bis zur Grenze von Kaschmir benötigte man etwa 8 Tage. Vigne hat diese Route im August/September 1835 für seinen ersten Besuch von Baltistan benutzt. Kurz vor Skardu führte dieser Weg entlang des östlichen Ufers des Satpara-Sees, der mit  Verteidigungseinrichtungen bestückt war. Das westliche Ufer des Sees galt als unpassierbar. Heute erreicht man die Deosai -Hochebene über eine neugebaute, von PKW befahrbare Straße. Nach Vigne  konnte man von Parkuta im Königreich Kartaksho die Deosai-Hochebene über einen mit Pferden gut benutzbaren Karawanenweg erreichen (siehe Abbildung 15, grüne Linie).

Abbildung 14: Die Deosai-Hochebene. Quelle: Wikimedia Commons, Autor  Ch. Muhammad Umer

Ein nach der Eroberung von Baltistan durch die Dogra von Reisenden (Thomson, Ujfalvy,  Conway, De Filippi etc.) häufig benutzter Weg nach Westladakh führte vom Zusammenfluss des Indus und des Shayok entlang des Indus über Sermik, Parkuta, Tolti und Kharmang bis Marol, von wo man entlang des Shingo-Flusses nach Purik und Kargil weiterreisen konnte (Abbildung 15, rot gestrichelte Linie). Diese Wegverbindung wurde von der Hauptarmee Zorawar Singhs bei seinem Eroberungsfeldzug gegen Baltistan im Jahre 1840 benutzt (siehe den Artikel über Ahmad Shah, 6. Einfall der Dogra aus Jammu und Verlust seiner Herrschaft). Als Hauptverbindung  zwischen Ladakh und Khaplu dient der Weg über den Chorbat-Pass. Dieser Karawanenweg führte von dem am Indus gelegenen Hanu über diesen Pass zum Shayok (Abbildung 15, rote Linie). Ein weiterer Weg (blaue Linie) verlief entlang des Shayok bis Nubra, von wo man über den Khardung-Pass Leh, die Hauptstadt von Ladakh, erreichen konnte.

Abbildung 15: Die Hauptverbindungen zwischen Ostbaltistan (Kartaksho und Khaplu) und Ladakh. Ausschnitt aus der im Jahre 1842 von John Walter nach den Angaben von Godfrey Thomas Vigne im Auftrag der East India Company erstellten Karte

Dem ökonomischen Nachteil, den die schwierige Zugänglichkeit der Region Baltistan mit sich brachte, stand in gewisser Weise ein relativer Schutz vor militärischen Eroberungen durch Nachbarstaaten gegenüber. Die sechs Herrschaftsgebiete Baltistans, deren Geschichte wir vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zum Jahre 1840 recht gut verfolgen können, besaßen zudem ein nicht unerhebliches militärisches Potential, das sie allerdings weniger zur gemeinsamen Verteidigung ihres Landes gegen Feinde von außen, als zu immer wiederkehrenden Kämpfen untereinander einsetzten. Dabei wurden äußere Feinde von den verfeindeten Parteien regelmäßig als Helfer ins Land gerufen bzw. bei  ihren Eroberungen von Gruppen aus Baltistan, die mit den aktuell jeweils Herrschenden verfeindet waren, unterstützt. Damit wurde der durch die geographische Lage bedingte natürliche Schutz nach außen relativiert und die sechs Königreiche verloren letztendlich in den Jahren zwischen 1840 und 1842 ihre Selbstständigkeit.

Im Inneren förderten die diffizilen Kommunikationswege die Aufteilung des Landes in kleine Herrschaftsgebiete. Die Haupttrennlinien zwischen den größeren Königreichen Skardu, Shigar und Khaplu wurden durch die großen Flüsse Indus und Shayok markiert, die mit größeren Truppenverbänden nur schwer zu überschreiten waren. Zur Flussüberquerung benutze man das kleine, floßartige Zak, bei dem aufgeblasene Tierbälger eine Plattform aus dünnen Ästen trugen, auf die Menschen und Güter zur Überfahrt platziert wurden. Pferde wurden an das so gebaute Floss angebunden und schwammen hinterherDe Filippi benutzte bei seiner Expedition im Jahre 1909 zur Überquerung des Indus bei Skardu ein größeres Boot. Dass solche Boote schon im 17. Jahrhundert in Baltistan bekannt waren, können wir einem Bericht des Shigar Nāma entnehmen (Behrouz, S. 176). 

      

Abbildung 16: Herrichten eines Zak nach Conway  (S.572 )

 

Abbildung 17: Ein hergerichteter Zak wird zum Fluss getragen (Duncan, S. 266)

 

Abbildung 18: Überquerung des Shayok mit einem Zak und zwei Pferden (Duncan, S. 266)

      

Abbildung 19: Überquerung des Shigar mit dem Zak im Jahre 1909 nach De Filippi, S. 342

 

Abbildung 20: Überquerung des Baraldu im Jahre 1909 mit dem Zak nach De Filippi, S. 144 

 

Abbildung 21: Überfahrt über den Indus bei Skardu im Jahre 1909 mit einem Boot nach De Filippi, S. 133

In den engen Schluchten des Indus in Rondu und Kartaksho gab es Hängebrücken aus Pflanzenfasern, auf denen man den Indus überqueren konnte. Solche Brücken gab es auch im Tal des Baroldo-Flusses. Bei niedrigem Wasserstand, insbesondere im Winter, benutzte man Behelfsbrücken. An bestimmten Stellen spannte man ein Seil über den Fluss, in das man einen Eisenring einfädelte, mit dem sich der Reisende von einem Ufer zum anderen gleiten lassen konnte (siehe auch Ujfalva, S. 259). Im Winter legte man, um das Zufrieren der Flüsse mit ohnehin niedrigem Wasserstand zu beschleunigen, in der Nacht dünne Baumzweige über das noch offene Gewässer, was in kurzer Zeit zu einer geschlossenen Eisdecke führte. Den Fluss konnte man dann auf dieser Eisdecke überqueren. Diese Methode wurde von Zorawar Singh im Winter des Jahres 1840 benutzt, um seiner Armee das Überqueren des Indus bei Marol zu ermöglichen.

      

Abbildung 22: Hängebrücke über den Punmah-Fluß östlich von Askole nach  De Filippi, S. 330 

 

Abbildung 23: Hängebrücke über den Baraldu bei Askole nach De Filippi. S. 331

 

Abbildung 24: Behelfsbrücke über den Baraldu nach De Filippi, S. 150

   

Abbildung 25: Auch heute noch vorzufinden: Überquerung des Indus an einem Seil westlich von Mendi (Oktober 2008)

 

Abbildung 26: Heutiger Ersatz für den Zak und die alten Hängebrücken: Eine moderne Brücke über den Shayok, die ins Hushe-Tal führt (Oktober 2008)

Heute fährt man von Skardu aus zu dem etwa 100 km entfernten Khaplu mit dem PKW zunächst auf der linken Seite des Indus und überquert diesen Fluss kurz nach seinem Zusammenfluss mit dem Shayok über eine moderne, mit dem Auto befahrbare Brücke. Die Fahrt setzt man danach auf der linken Seite des Shayok auf einer gut asphaltierten Straße fort und erreicht Khaplu von Skardu aus gerechnet nach etwa drei Stunden. In alter Zeit war die linke Seite des Shayok unpassierbar. Der Reisende, der für die Strecke von Skardu nach Khaplu fünf Tage benötigte, setzte bei Gol mit dem Zak über den Indus und reiste über Kiris und Kuru bis Balghar, wo er den Thalle-Fluss überschreiten musste. Er setzte seinen Weg über Daghoni und Kharku fort, wonach er in Sichtweite von Khaplu abermals mit dem Zak den Shayok überquerte, um Khaplu zu erreichen. Wegen der latenten Bedrohung von Khaplu durch die Königreiche Skardu und Shigar im 17. und 18. Jahrhundert diente das kleine Herrschaftsgebiet von Kiris, zu dem auch Kuru gehörte, als Pufferstaat zwischen den westlichen Herrschaftsgebieten Skardu und Shigar und dem östlichen Königreich von Khaplu. Außerdem war die vorstehend beschriebene Reiseroute mit Bergfestungen in Nar, Kiris, Kuru, Balghar und Kharku bestückt. Den Abschluss bildete die Festung in Saling, die den Zugang zum Hushe-Tal bewachte.

Abbildung 27: Der alte Karawanenweg zwischen Khaplu und Skardu (rot), die Anbindung dieses Weges nach Shigar (rot gestrichelt) und der Weg von Shigar nach Daghoni über den Thalle-Pass (blau). Ausschnitt aus "India and Pakistan" (Jammu and Kashmir) Ni-43-03. 1:250.000. Mundik

Von Shigar aus reiste man zunächst nach Nar und anschließend nach Kiris, von wo aus man auf dem oben beschriebenen Weg Khaplu erreichte. Ein weiterer Weg führte von Shigar aus über den Thalle-Pass (Thalle La) nach Daghoni. Um zu diesem Ort von Shigar aus zu gelangen, benötigte man drei Tage. Vigne hat als erster Europäer diesen Weg gewählt, um nach Khaplu zu reisen. Von Daghoni aus erreichte man nach einem weiteren Tag auf der üblichen Route Khaplu.

Abbildung 28: Blick auf den Thalle-Pass in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach Schlagintweit, S. 264

2. Ackerbau und Viehhaltung, Jagd und Fischfang, Handwerk, Handel und Bergbau

Grundsätzlich ist anzumerken, dass die Landwirtschaft auch heute noch die wichtigste Einnahmequelle der Bevölkerung in Baltistan ist. Moderne Untersuchungen, die sich aber hauptsächlich auf den Großraum Gilgit-Baltistan beziehen (Report No. 55998-PK  (2010) und Hagler Bailly Pakistan (2005)), zeigen aber auf, dass die Einnahmen aus der Beschäftigung außerhalb der Landwirtschaft inzwischen die erwirtschafteten Beträge aus der Landwirtschaft übersteigen. Nach dem Report No. 55998-PK erwirtschaftete man in ganz Gilgit-Baltistan 1994 mit der Landwirtschaft noch 57% des Gesamteinkommens der Bevölkerung. Dieser Prozentsatz verringerte im Jahre 2005 auf 37 %. Auch wenn diese Prozentsätze bedingt durch die im Vergleich zu Gilgit ungünstigere geographische Lage in Baltistan noch etwas höher sein dürften, zeichnet sich doch auch hier eine vergleichbare Tendenz ab. Parallel dazu stieg in Gilgit-Baltistan der Anteil der außerhalb der Landwirtschaft Beschäftigten von 49 % in 2001 auf 66 % in 2005.  Dabei entfielen 26,7  % der Gesamtbeschäftigung in 2004/05 auf den Dienstleistungssektor und 10,5 % auf die Bauindustrie.1/3 der außerhalb der Landwirtschaft Tätigen war in der öffentlichen Verwaltung  beschäftigt. Von diesen waren wiederrum 42 % für das Militär tätig. Regionen mit einem höheren Anteil von landwirtschaftlich Beschäftigten sind als ärmer einzustufen. So betrug der Anteil derjenigen, die in Gilgit unterhalb der Armutsgrenze leben, im Jahre 2005 nur 14 %, während sich dieser Anteil im Gangche-Distrikt in Baltistan im gleichen Jahr auf 33 % belief (Report No. 55998-PK, 2.11). Die größere Abhängigkeit von der Landwirtschaft bewirkte auch in der Vergangenheit eine größere Anfälligkeit für die Zunahme von Armut. So stieg in Gilgit-Baltistan der Anteil derer, die unter die Armutsgrenze Pakistans fielen, in den Jahren zwischen 1998 und 2002 um 10 %, während er in den folgenden drei Jahren um mehr als 10 % abnahm. Als Ursache werden wetterbedingte Ernteausfälle und Veränderungen der Marktpreise für Agrarprodukte vermutet. Die Gruppe mit dem geringsten Einkommen in Gilgit-Baltistan bezog 59 % ihrer Einnahmen aus der Landwirtschaft, während für die Bestverdiener nur 34 % der Einkünfte aus der Landwirtschaft stammten (Report No. 55998-PK, 2.15).

Der Großteil der landwirtschaftlichen Produktion in Baltistan ist für den Selbstverbrauch bestimmt. In 2005 wurden nur 15 % der in Gilgit-Baltistan erzeugten Produkte zum Verkauf auf den Märkten angeboten. Veränderungen zu einer mehr marktorientierten Produktion zeigen sich insbesondere am Kartoffelanbau und am verstärkten Anbau von Äpfeln, Kirschen und Aprikosen. Von dem Einkommen aus der Landwirtschaft entfielen in Gilgit-Baltistan in 2005 35 % auf den Feld- und Gemüseanbau, 38 % auf die Tierhaltung und 16 % auf den Obstanbau. Die restlichen 11 % waren der Forstwirtschaft zuzurechnen. Für den Zeitraum von 1996 und 2006 hat der Anteil der Tierhaltung erheblich zugenommen, was durch einen Anstieg der Preise für Tierprodukte wie Fleisch, Butter und Milch erklärt wird. Die Produktivität in der Landwirtschaft Baltistan ist niedriger als im übrigen Pakistan. Grundsätzlich ist festzustellen, dass die landwirtschaftliche Produktion heute bei weitem nicht mehr ausreicht, um die Bevölkerung Baltistans zu ernähren. Infolge hiervon wird ein erheblicher Teil der Nahrungsmittel aus dem übrigen Pakistan nach Baltistan geliefert (Quelle: Report No. 55998-PK9). Dies stellt aber für die heutigen Lebensmöglichkeiten in diesem Land kein grundsätzliches Problem dar, weil der größere Teil der Einnahmen der Bevölkerung außerhalb des landwirtschaftlichen Sektors generiert wird.

2.1. Feldanbau

Während sich heute insbesondere Skardu und Khaplu zu Städten entwickeln, ist für das alte Baltistan anzumerken, dass es früher keine Siedlungen gab, die man als Städte bezeichnen könnte. Die Wohnburgen und Bergfestungen der Herrschaftsbereiche Rondu (Mendi), Skardu, Shigar, Kiris, Khaplu und Kartaksho (Kharmang) waren zwar die Machtzentren dieser sechs Königreiche, doch gruppierten sich um sie nur kleine Dörfer. Die meisten dieser Dörfer liegen auf Schuttfächern, die sich im Anschluss an die letzte Hauptvergletscherung vor ca. 50.000 Jahren gebildet haben (Schmidt, S. 27f). Der Ackerbau war von alters her die Hauptnahrungsquelle der Bewohner Baltistans, wobei dieser wegen der geringen Niederschläge nur durch eine künstliche Bewässerung der Felder möglich war. Dabei waren Bergbäche (Nullah), die zumeist von den Schneemassen und Gletschern des Karakorum gespeist wurden, die Hauptwasserquelle. Der Bau der Bewässerungskanäle und die terrassenförmige Anlage der Felder erforderte erhebliche bauliche Maßnahmen. Die Instandhaltung ist ebenfalls mit großen Aufwendungen verbunden. Solche künstliche Bewässerungen als Voraussetzung für den Ackerbau sind auch für andere Gebiete des Karakorum und insbesondere des Himalaya charakteristisch. Zur einvernehmlichen Nutzung der Wasserressourcen ist dort wie in Baltistan ein System von Regeln zur Wassernutzung erforderlich, an das sich die Bauern jeweils halten müssen. Für den Ort Shigar in Baltistan liegt zu diesem Thema eine vorzügliche, umfangreiche Studie von Matthias Schmidt vor. Sehr lesenswert sind auch die Darlegungen von Ursula Sagaster (S. 94ff) zu diesem Thema.  

Abbildung 29: Landestypische, auf Schuttfächern gelegene Siedlungen im Shigar-Tal von Baltistan. Im Vordergrund der Shigar-Fluss (Oktober 2009)

Abbildung 30: Der Bergbach (Nullah), der die Oase Shigar mit Wasser versorgt (Oktober 2007)

Abbildung 31: Ein Bewässerungskanal in der Oase Shigar in Baltistan (Oktober 2007)

Abbildung 32: Kunstvoll angelegte Terrassenfelder in Nar in Baltistan (Oktober 2008)

Über den Anbau von Feldfrüchten findet man detaillierte Angaben bei Thomas Godfrey Vigne, der Baltistan vor der Eroberung durch die Dogras in den Jahren 1835 – 1838 besucht hat (Vigne, S. 263f und 321). Vignes Auflistung enthält als Feldfrüchte Weizen, Gerste, Rüben, Hirse, Buchweizen, Hahnenkamm, Bohnen und Erbsen. Insofern unterscheidet sich der heutige Anbau von Feldfrüchten (Schmidt, S. 77ff) nicht von dem der Zeit vor 1842. Neu hingegen ist heutzutage der offenkundig extensiv betriebene Kartoffelanbau. Wer im Herbst nach Baltistan fährt, kann an vielen Orten sehen, wie an diversen Verladestellen große Mengen von Kartoffelsäcken gestapelt sind, die auf den Abtransport in den Süden Pakistans warten. Übrigens wurde der erste Versuch, die Kartoffel in Baltistan einzuführen, im Jahre 1835 von Carl Baron von Hügel unternommen. Baron von Hügel hatte mehrere Körbe dieser „Erdäpfel“ mit nach Kaschmir gebracht und schickte vor seiner Abreise von Kaschmir einige davon mit anderen Geschenken (Munition, 3 Flaschen Cognac und Medikamente) zu Ahmad Shah, dem Herrscher von Skardu (von Hügel, Band 1, S. 301f). Es ist nicht bekannt, ob dieser Einführungsversuch des österreichischen Barons von Erfolg gekrönt war. Allerdings finden wir in einem Bericht des ungarischen Ethnologen Károly Jenö Ujfalvy von Mezokovesd, der Baltistan 1881 besuchte, den Hinweis (S. 206), dass zur Zeit seines Aufenthaltes in Skardu dort der Kartoffelanbau bekannt war. Zu einer Einladung des Bruders des abwesenden Dogragouverneurs bemerkt Ujfalvy nämlich: "Er bot uns Melonen, Aepfel, Aprikosen und allerhand Gemüse an, worunter wegen ihrer Seltenheit sehr geschätze Kartoffeln."

Zu ergänzen ist hier noch, dass in vielen tieferen Lagen Baltistans jährlich zwei Ernten erzielt werden können.

Abbildung 33: Säcke mit Kartoffeln lagern zum Abtransport in den Süden Pakistans an der Brücke über den Shayok bei Daghoni in Baltistan (Oktober 2007)

Abbildung 34: Trocknen von Hirse zur Erntezeit in Kuru in Baltistan (Oktober 2007)

2.2. Obst- und Gemüseanbau

Schon Csoma De Körös hat in seinem 1832 erschienenen Aufsatz über die Geographie Tibets (S. 126) darauf hingewiesen, dass sich in Baltistan viele Arten von Obstbäumen befinden. Er erwähnt auch den Weinanbau. Captain Wade schreibt in einem 1835 erschienenen Artikel zum Obstanbau in Baltistan folgendes (S. 593): „It produces every kind of fruit peculiar to a cold climate, such as plumbs, cherries, apricots, currants, walnuts, &c. The oil is extracted from the kernel of the apricot, which is universally used by the people for culinary and other purposes. The country abounds with rhabarb and asafoetida.“  Vigne (S. 263f) erläutert, dass in Skardu gute Weintrauben, exzellente Äpfel und Birnen geerntet wurden. Er schreibt, dass Aprikosen und Pfirsiche allgemein klein und sehr gelb waren und getrocknet sehr süß schmeckten. Vigne erwähnt, dass es sehr viele Melonen gab, die von sehr gutem Geschmack waren. Aprikosen wurden in großen Mengen abgebaut und in getrocknetem Zustand nach Ladakh und Kaschmir exportiert. Auch heute ist der Obstanbau für die Ernährung der Bevölkerung in Baltistan von großer Bedeutung. Der Obstanbau wurde in Gärten (Tshar) betrieben, die zumeist am Rande der Siedlungen lagen und den verschiedenen Haushalten eines Dorfes gehörten. Das Paradestück eines solchen Gartens ist die Gartenanlage der zu einem Hotel umgebauten Wohnburg von Shigar, die Amatya Tshar genannt wird und die als Kunstgarten natürlich für die Bedürfnisse von Hotelgästen neu gestaltet wurde.

Anzumerken ist noch, dass die Pappel der wichtigste Baum für die Nutzholzgewinnung ist.

Abbildung 35: Obstgarten der Wohnburg von Shigar (Oktober 2007)

Abbildung 36: Garten im Dorf Ghzoapa in Shigar (Oktober 2007)

Abbildung 37: Das Schmuckstück aller Gartenanlagen von Baltistan: Der Amatya Tshar-Garten der Wohnburg von Shigar (Oktober 2008)

Eine vermutlich neuere Entwicklung stellt der Anbau von Gemüse in kleineren Hausgärten dar, über die wir durch die Arbeit von Matthias Schmidt unterrichtet sind. Schmidt schreibt hierzu (S. 80): „Gemüse wird in der Regel in Küchen- oder Gemüsegärten (drumba) nahe dem eigenen Haus gezogen. Haushalte, die über keinen solchen Garten verfügen, ziehen Gemüse auf einem kleinen Bereich ihrer Ackerparzellen, den sie nicht mit Getreide einsäen. Die wichtigsten Gemüsearten sind Spinat (karam), Kohl (ban gobi), Kartoffeln (alu), Rüben (mulo), Karrotten (waphu), Zwiebeln (tshong), Kürbis (wan), Tomaten (paghan) und Gurken.“

2.3. Tierhaltung

Eine wichtige Säule der Landwirtschaft in Baltistan war in alter Zeit und ist noch heute die Viehhaltung. Voraussetzung hierfür ist das Vorkommen größerer Weideflächen in großen Höhenlagen. Die Gründe für die Entstehung dieser alpinen Graszonen wurden von Matthias Schmidt wie folgt beschrieben (S. 29): „Im Gegensatz zur Niederschlagsverteilung in den Talsohlen fallen die Niederschläge in den Hochlagen gleichmäßiger über das Jahr verteilt. Der Bereich mit den höchsten jährlichen Niederschlagssummen von 1000 bis 2000 mm befindet sich im zentralen Karakorum in Höhen von über 5000 m.“ In Folge hiervon finden sich an den nördlichen Berghängen zwischen 3300 und 3900 m sogar teilweise geschlossene Wälder aus Wachholder und Weiden, an die sich der alpine Rasen anschließt. An Südlagen schiebt sich der Übergang zur Rasenzone bis in die Höhe von 4200 m (Schmidt, S. 34). Von der Talsohle aus sind die bewaldeten bzw. mit Rasen versehenen Gebiete zumeist nicht einsehbar. Nach Schmidt (S. 149f) waren die Weidegebiete bestimmten Ortschaften zugeordnet und wurden von allen Familien eines Ortes gemeinsam genutzt. Zur Weidenutzung existieren Weiderechtdokumente (nagl-kahchari). Eine Veröffentlichung solcher Dokumente liegt bis heute leider nicht vor.

Die wichtigsten Nutztiere waren Yaks und Rinder sowie die zahlreichen Kreuzungen (Hybridformen) zwischen Yaks und Hausrindern. Des Weiteren sind Schafe und Ziegen zu erwähnen. Als Reit- und Transporttiere wurden Pferde und Esel benutzt. In dieser Funktion spielen diese Tiere heute keine Rolle mehr. Pferde werden heute nur noch als Reittiere für den Polo-Sport gehalten. Schmidt (S. 86) nennt noch die Hühnerhaltung und erwähnt zwei Hühnerfarmen, die in Shigar zu finden sind.

Abbildung 38: Auf der linken Seite des Indus in Rondu westlich von Mendi gelegene Siedlung. Im Hintergrund sieht man deutlich die hochgelegenen Waldgebiete mit den alpinen Weideflächen (Oktober 2008) 

   

Abbildung 39: Ein Yak auf einer Hochgebirgsweide in Baltistan. Quelle: Nasima Frey-Rahmann und Helmut Zappe, 1992

 

Abbildung 40: Kühe als Zugtiere beim Pflügen in Nar (Oktober 2008)

   

Abbildung 41: Ein Hirte mit den ihm anvertrauten Haustieren in Nar (Oktober 2008)

 

Abbildung 42: Esel am Bergbach (Nullah) von Shigar (Oktober 2007)

Abbildung 43: Pferde beim Polo-Spiel in Shigar (Oktober 2008)

2.4. Jagd und Fischfang

Godfrey Thomas Vigne, der als erster Europäer in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts Baltistan mehrfach besucht hat, war ein passionierter Jäger. Er berichtete in seinem 1842 erschienenen Buch (S. 279ff) über die verschiedenen Wildtiere Baltistans und erwähnt insbesondere den Steinbock (Ibex, Balti: Skin), der im Winter, wenn diese Tiere wegen des Schnees in den Höhenlagen ins Tal hinab steigen, intensiv bejagt wurde. Abbildungen von Steinböcken finden sich auf zahlreichen Felszeichnungen in Baltistan. Nach Vigne wurden in Skardu im Winter zwischen 100 und 200 dieser Steinböcke erlegt. Daneben nennt Vigne den Markhor, der nach seinen Angaben von den Balti Rawacheh „große Ziege“ genannt wurde, das Blauschaf (Nahur), welches nach seinen Angaben von den Balti als Sná bezeichnet wurde, eine von den Balti Shá genannte Reh-Art, die er als Tragelaphus oder goat-deer bezeichnet, und das Moschustier (musk-deer), welches in Baltistan H´la (Sprigg schreibt gla) genannt wurde. An weiteren Wildtieren erwähnt Vigne den Leopard, den Fuchs, den Bären, das Kaninchen und das Murmeltier.

      

Abbildung 44: Steinböcke in Gilgit-Baltistan. Quelle: Wildlive Department Gilgit-Baltistan (http://www.wdgb.gov.pk/Gallery/gallery.html)

 

Abbildung 45: Steinbock in Gilgit-Baltistan. Quelle: Wildlive Department Gilgit-Baltistan (http://www.wdgb.gov.pk/Gallery/gallery.html)

 

Abbildung 46: Markhor in Gilgit Baltistan. Quelle: Wildlive Department Gilgit-Baltistan (http://www.wdgb.gov.pk/Gallery/gallery.html)

      

Abbildung 47: Markhor in Gilgit-Baltistan. Quelle: Wildlive Department Gilgit-Baltistan (http://www.wdgb.gov.pk/Gallery/gallery.html)

 

Abbildung 48: Schneeleopard in Gilgit-Baltistan. Quelle: Wildlive Department Gilgit-Baltistan (http://www.wdgb.gov.pk/Gallery/gallery.html)

 

Abbildung 49: Braunbären in Gilgit-Baltistan. Quelle: Wildlive Department Gilgit-Baltistan (http://www.wdgb.gov.pk/Gallery/gallery.html)

Abbildung 50: Ein von Kindern aufgegriffener, kranker Raubvogel in Saling in Baltistan (Oktober 2008)

Wir wissen nicht, ob es im alten Baltistan ein spezielles Jagdrecht gab. Heute sind von den Behörden in Pakistan Jagdzeiten festgelegt, wobei die übliche Jagdzeit vom 15. November bis zum 31. März dauert. Für viele Dörfer stellt die Jagd eine sinnvolle Ergänzung der durch Ackerbau, Ostanbau und Viehzucht gegebenen Nahrungsgrundlage dar. Der Hagler Bailly Pakistan (1) führt hierzu aus (3.7.3 Hunting): " Many communities in the project area supplement their cereal-based diet by hunting wildlife. Ibex is the most commonly hunted species across the region. In addition to its dietary importance, it is viewed as a symbolic resource by many of the local communities, who consider it to be a symbol of fertility, vitality, and strength. When an ibex is killed, its essential organs (heart, liver, kidneys) are distributed to people significant to the hunter as a gesture of wishing them good health, and for the continued significance of their authority."

Des Weiteren werden neuerdings Jagdrechte an Ausländer verkauft. So kostet der Abschuss eines Steinbocks etwa 4000 US Dollar. Hinzu kommt noch eine lokale Gebühr, die sich auf weitere 4000 bis 6000 US Dollar beläuft.

Letztendlich ist hier noch der Fischfang zu erwähnen. Vigne (S. 282) erwähnt als einzigen Fisch die Forelle, die auch im Indus geangelt wurde und insbesondere die Seen Baltistans bevölkert. In Saling fand ich eine Fischzuchtanlage vor, zu der auch ein kleines, bescheidenes Fischrestaurant gehört, das bei den in Khaplu stationierten Armeeangehörigen sehr beliebt ist. Ein vergleichbares Fischrestaurant befindet sich auch am Satpara-See bei Skardu. Der Hagler Bailly Pakistan (1) erwähnt als weitere Fischarten von Baltistan (3.7.3) die tibetische Bachschmerle (Triplophysa stoliczkai) und die Barbenarten Ptychobarbus conirostis sowie Schizopygopsis stoliczkai. 

2.5. Handwerk

Obwohl die bedeutenden religiösen und weltlichen Baudenkmäler in Baltistan ohne eine fest etablierte Gruppe von handwerklich erfahrenen Baumeistern, Schreinern und Holzschnitzern niemals entstanden wären, hat das Handwerk in Baltistan durch die Reisenden des 19. und angehenden 20. Jahrhunderts wenig Beachtung gefunden. Vigne (S. 292) erwähnt nur den Abbau von Speckstein (steatite) in einem Steinbruch, der ca. 11 km vom Ort Shigar entfernt lag. Dieser Speckstein wurde in Baltistan nach seinen Angaben zu Tassen und Tellern verarbeitet. Ujfalvy sammelte auf seiner Baltistanreise im Jahre 1881 zahlreiche Gegenstände der materiellen Kultur und insbesondere Kunstgegenstände wie Schmuck und Vasen, Teekannen usw. Einiges davon hat er seinem 1884 erschienen Buch veröffentlicht. Die publizierten Gegenstände lassen auf das Vorhandensein eines hochentwickelten Schmiedehandwerks (insbesondere Gold- und Silberschmiede) schließen, auch wenn nicht klar ist, ob nicht doch einzelne der im Folgenden abgebildeten Gegenstände nach Baltistan importiert worden sind. Nach Schmidt (S. 231), der sich auf den 1890 erschienen „Gazetteer of Kashmir and Ladak“ als Quelle bezieht, lebten gegen Ende des 19. Jahrhunderts im Bereich des ehemaligen Königreiches von Shigar „26 Weber, 15 Zimmerleute, zehn Fährmänner, zehn Schmiede, drei Töpfer und drei Schuhmacher." Schmidt hat im Shigar-Tal noch zwei Familien angetroffen, die Geschirr, Amulette und weitere Gegenstände aus Serpentin herstellten. Ein Teil der von Schmidt aufgezählten Handwerksberufe, wie Weber, Fährmänner und Töpfer, dürften heute ganz oder teilweise nicht mehr existieren, während Berufe wie Zimmerleute, Maurer, Schreiner, Schuhmacher, Schneider, Barbiere und Goldschmiede auch heute noch anzutreffen sind und wirtschaftlich eine Zukunft haben.

      

Abbildung 51: Erzeugnisse des Kunsthandwerks von Baltistan. Quelle: Uyfalvy, S. 195

 

Abbildung 52: Erzeugnisse des Kunsthandwerks von Baltistan. Quelle: Uyfalvy, S. 218

 

Abbildung 53: Erzeugnisse des Kunsthandwerks von Baltistan. Quelle: Uyfalvy, S. 218

      

Abbildung 54: Erzeugnisse des Kunsthandwerks von Baltistan. Quelle: Uyfalvy, S. 194

 

Abbildung 55: Erzeugnisse des Schmiedehandwerks in Baltistan. Quelle: Ujfalvy, S. 218

 

Abbildung 56: Erzeugnisse des Schmiedehandwerks in Baltistan. Quelle: Ujfalvy, S. 218

      

Abbildung 57: Schreinerei in Nar (Oktober 2008)

 

Abbildung 58: Schuhmacher in Shigar (Oktober 2007)

 

Abbildung 59: Barbier in Shigar (Oktober 2008)

2.6. Handel und Bergbau

Als der Franzose Victor Jacquemont im Juni 1831 in Kaschmir angekommen war, erreichte ihn ein Bote des Herrschers von Klein-Tibet Ahamd Shah. Dieser Bote überreichte ihm einen Brief, mit dem Ahmad Shah zu einem Besuch von Baltistan einlud (Jacquemont, S. 100). Ahmad Shah kündigte dem Franzosen als Geschenke die Übersendung von Gold, Moschus und Bergkristallen, die aus den Bergen seines Landes stammten, an. Jacquemont schrieb zurück, dass er nicht an diesen Dingen, sondern an lebenden Wildtieren aus Baltistan interessiert sei. Anfang September des gleichen Jahres traf bei ihm ein zweites Mal ein Bote von Ahmad Shah ein, der ihm als Geschenk ein Ehrengewand, drei Brocken Bergkristalle und acht große Säcke mit getrockneten Aprikosen sowie zwei lebende Antilopen überreichte (Jacquemont, S. 148f). François Bernier, der 1663 mit Murad Khan von Skardu in Kashmir zusammentraf, erwähnt als Produkt von Baltistan neben Bergkristallen und Moschus auch die Wolle.

Mit Bergkristallen, Moschus, getrockneten Aprikosen und Wolle sind auch die Hauptprodukte genannt, die aus Baltistan exportiert werden konnten. Über die Bergkristalle berichtet Jacquemont (S. 154), dass diese in Kashmir zu Vasen verarbeitet wurden, die in Indien sehr geschätzt wurden. Hinsichtlich der Gewinnung von Gold teilen viele Baltistan-Reisende mit, dass die Goldvorkommen sehr gering gewesen seien und dass das Schürfen von Gold wenig lohnend war. Vergleichbares hatte schon der Skardu-König Murad Khan im Jahre 1663 François Bernier mitgeteilt. Zur Goldgewinnung in Baltistan schrieb Vigne (S. 287): "On the banks of the Basha stream is produced more gold-dust than in other part of Little Tibet, and it is the only place which the Rajah reserves to himself for that purpose. Any other person may wash the sand for gold elsewhere, but the value of the quantity collected, and of the time expended, is so nearly balanced, that I have never seen any gold-washers but once, and that was near the village of Kerris. Four or five men were employed, and I purchased the result of their labours for four rupis.They must have washed and sifted a great many bushels of earth, but the quantity of gold-dust obtained was not more than would cover the surface of a shilling.” Captain Wade schrieb 1835 über den Abbau von Bodenschätzen in Baltistan (S. 593): „Among the mineral productions may be named gold, sulphur and arsenic, and Sohan Makhí which are found in the Shakar district. In Revend also, there are mines of gold, arsenic, chrystal, and Sohan Makhí; and in the district of Baraldoh, there is a sulphur mine, the effluvia of which is so strong as to be suffocating to those who approach it.”

Ganz so gering, wie Vigne uns glauben machen will, kann die Ausbeute des Waschens von Gold in Baltistan nicht gewesen sein, denn zu seiner Ankunft im Hause des Herrschers von Skardu schrieb er selbst (S. 245): „… one of his attendants immediately presented me with a plate of small, thin, fanciful stamped pieces of gold, made from the gold dust collected on the banks of the Indus, and other rivers in the country, and another plateful of similar silver pieces…” Bei den nach Vigne phantasievoll geprägten Goldstücken handelt es sich offenbar um die Goldmünzen, die Baron von Hügel 1835 in Kaschmir vorgefunden hat und die er neben den Goldmünzen Lahor Gold-Mohur und Herat Dinar wie folgt beschrieben hat (Band 2, S. 235): „Iskardu Hun (Hun bedeuted Goldmünze), ein dünnes Goldblatt, mit einer Art Rosette als Gepräge, zu 1 3/5 Rupien.“ Das Schürfen von Gold hat auch in der heutigen Zeit noch eine gewisse ökonomische Bedeutung. Bezogen auf die größere Region Gilgit-Baltistan enthält der im Dezember 2010 veröffentlichte Gilgit-Baltistan Economic Report hierzu das Folgende (Report No. 55998-PK, S. 47): „Gold extraction in GB (Gilgit-Baltistan) is also largely artisanal and informal, although alluvial anomalies identified in recent surveys indicate a fair potential for small scale mining of gold. Locals supplement their incomes by extracting gold from the river sands during autumn, employing rudimentary panning and washing techniques. There are about 200 families directly involved in gold panning, depending on the gold price. A major concern is the use of mercury to extract gold from ores, after which the residual material containing traces of mercury is thrown into the rivers. This practice has serious long-term implications for the health of miners and other water users, as well as for the environment.” Nach Hagler Bailly Pakistan (1) stammt aber der größte Teil der Goldwäscher heute nicht aus Baltistan sondern besteht aus saisonalen Zuwanderern aus Chilas und Kohistan (3.13): "Twice a year, from March to May and September to November, migratory gold washers from the Chillas and Kohistan areas migrate in groups from their villages to the Karakorum area. Although the size of the groups usually varies from two or three persons to approximately 100 or more, the gold washers observed along the periphery of the CKPA travel as family units, with approximately 10-15 persons. The groups travel light, bringing with them basic articles such as a tent, a few cooking utensils, a goat and some gold-washing implements. The gold washers work along the banks of the many rivers and tributaries descending from the high mountain range, pitching their tents in rock shelters."

      

Abbildung 60: Goldwäscher im Hushe-Tal. Quelle: Hagler Beilly Pakistan (1), Exhibit 3.28

 

Abbildung 61: Schmuckstein-Mine im Baraldu-Tal in Baltistan. Quelle: Hagler Bailly Pakistan, Exhibit 3.5 

 

Abbildung 62: Schmuckstein-Mine im Basha-Tal in Baltistan. Quelle: Hagler Bailly Pakistan (1), Exhibit 4.33

Der Abbau von Bergkristallen zielte auch in alter Zeit offenbar auf den Abbau von Schmucksteinen, wie z. B. Saphire, Rubine, Aquamarine, Turmaline usw., von denen Baltistan bedeutende Vorkommen besitzt. Heute steht deren Abbau im Vordergrund entsprechender Bergbauaktivitäten, wobei der wirtschaftliche Erfolg durch mangelnde verkehrliche Erschließung der Abbauregionen, primitive Abbaumethoden und administrative Hürden begrenzt wird. Edelsteine aus Baltistan wurden und werden in unbearbeiteten Zustand weiterverkauft. Die Schwierigkeiten der Schmucksteingewinnung werden im Gilgit-Baltistan Economic Report wie folgt geschildert ((Report No. 55998-PK, S. 46): „Pakistan is believed to host the fifth largest gemstone deposits in the world, and GB (Gilgit-Baltistan) is one of Pakistan’s main gemstone mining areas… Out of a US$ 8 billion dollar global gemstone market in 2003, however, Pakistan accounted for a mere US$ 13 million, and the Northern Areas Gemstone and Mineral Association (NAGMA) estimates that GB (Gilgi-Baltistan) accounts for around US$ 5 million of this. Reliable data is scarce, and like in much of the rest of Pakistan, the mining of gemstones remains largely informal and unrecorded in GB (Gilgit-Baltistan), as it is largely undertaken at the artisanal and micro scale. Local miners generally do not even apply for formal licenses or leases from the mineral administration of GB (Gilgit-Baltistan), and permission to mine gemstones stems mostly from village committees. Informal gemstone mining in the region often involves small groups working at 4,000-6,000 meters above sea-level for periods of two to four months during the summers. There may be around 1,200 such mining parties, mostly working “foxholes” - irregular tunnels that pierce the mountains following gemstone bearing veins, which given their characteristic appearance are quiet easily identifiable by local miners. The exploration and mining techniques in use are extremely basic. The frequent use of dynamite damages valuable stones by fracturing, when an intact large gem is many times more valuable than a set of smaller gems of equal weight. The health and safety of miners are also a major concern, and roof collapses and suffocations in the unstable geology of GB (Gilgit-Baltistan) are common. Since the writ of government is weak in many gemstone mining areas, small scale mining is largely unregulated, and accidents are unreported.”

      

Abbildung 63: Quarz mit Schmucksteinen aus Shigar. Quelle: Wikimedia Commons

 

Abbidung 64: Bergkristall aus Shigar. Quelle: The Arkenstone http://www.irocks.com/

 

Abbildung 65: Quarz-Rutile aus Shigar. Quelle Wikimedia Commons: Quartz-Rutile-114359.jpg 

      

Abbildung 66:  Beryll-Quartz-Albite aus Shigar. Quelle: Wikimedia Commons Beryl-Quartz-Albite-255197.jpg

 

Abbildung 67: Beryll-Topas-Quartz aus Shigar. Quelle: Wikimedia Commons Beryl-Quartz-Albite-255197.jpg

 

Abbildung 68: Quartz aus Shigar. Quelle Wikimedia Commons Shigar Quartz-290584.jpg

Über die Organisation der Handelsaktivitäten, die vor 1842 zwischen Baltistan und seinen Nachbarn in Ladakh und Kaschmir bestanden, sind wir genauso wenig unterrichtet wie über das Handelsvolumen und die Bedeutung des Handels für die Gesamtwirtschaft Baltistans. Die wichtigsten Güter, die im Tausch gegen die vorstehend aufgeführten, exportierten Waren vor 1842 nach Baltistan importiert wurden, waren zweifellos Tee sowie Waffen (Vorderlader) und Munition. Angesichts der zahlreichen Kriege zwischen den Königshäusern in Baltistan seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war der Bedarf an Schwertern und Gewehren sehr groß. Als der Dogra-Feldherr Zorawar Singh im Jahre 1840 Skardu einnahm und ihm die Burg Kharphocho kampflos übergeben wurde, erbeutete er mit dem Waffenlager dieser Festung 3.000 Gewehre und 2.000 Schwerter (Hashmatullah Khan, S. 89). Wir wissen nicht, ob der Handel mit Baltistan vor 1842 in den Händen von Händlern aus Kaschmir und Ladakh lag oder ob, z. B. von Skardu und Khaplu aus, Karawanen organisiert wurden, die in die Nachbarländer reisten. Unbekannt ist auch, ob und inwieweit die Herrscherhäuser ein Monopol für solche Handelsaktivitäten für sich reklamierten.

Die Einordnung in den Herrschaftsbereich von Jammu und Kaschmir, zu dem auch Ladakh gehörte, brachte für Baltistan Erleichterungen im Handel mit seinen südlichen und westlichen Nachbarn. Ob dies zu einer wesentlichen Erweiterung der Handelsaktivitäten führte, ist allerdings unbekannt, zumal über die in Frage kommende Zeit von 1846 bis 1947 von mehreren Baltistan-Reisenden berichtet wird, dass das Land von einer nahezu beispiellosen Armut gekennzeichnet war. Da dieses agrarisch geprägte Land im Wesentlichen nur seine Überschüsse aus der landwirtschaftlichen Produktion exportieren konnte, stellt sich doch die Frage, wie bei einem offenkundigen Rückgang der Überschussproduktion in Baltistan der Tauschhandel mit den Nachbarregionen, wie von Schmidt (S. 46) konstatiert, intensiviert werden konnte. Frederic  Drew, der 1863 und 1870 Baltistan bereiste, berichtet davon (S. 363), dass in Skardu ein kleiner Basar entstanden war, dessen Geschäfte Kaufleuten aus Kaschmir gehörten. Ujfalvy (S. 193) erwähnt diese Handelseinrichtung als „elenden Bazar“ und Knight (S. 262) spricht von einem „very mean little bazaar.“ Eine ähnliche Verkaufseinrichtung existierte auch in Shigar, welches Conway 1892 besuchte. Conway beschrieb diesen Basar wie folgt (S. 568): „ There was a short interval of fields before we entered a street of low houses and shops, forming the Shigar bazaar.“ Dieser alte Basar von Shigar besteht noch heute und wurde vor einigen Jahren vom Aga Khan Cultural Service Pakistan restauriert.

   

Abbildung 69: Der aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammende alte Purana-Basar von Skardu (Oktober 2007)

 

Abbildung 70: Geschäft im alten Basar von Skardu (Oktober 2007)

Abbildung 71: Der über hundert Jahre alte, restaurierte Basar von Shigar (Oktober 2007)

Was den Warenverkehr mit den Nachbarländern in der Zeit der Zugehörigkeit Baltistans zu Jammu und Kaschmir betrifft, liegt uns mit den Darlegungen von Hashmatullah Khan (S. 134f) eine sehr verlässliche Quelle vor. Letzterer war als Wazir-i-Wazarat um 1912/13 über einen längeren Zeitraum hinweg der oberste Verwaltungsbeamte der Dogra-Administration in Ladakh und Baltistan und hatte somit gute Kenntnisse über die ihm unterstellten Länder. Nach Hashmatullah Khan wurden insbesondere die Kerne süßer Aprikosen in großen Mengen nach Indien (Hindustan) exportiert. Daneben wurden getrocknete Aprikosen nach Indien und Lhasa verkauft. Butter wurde in größeren Mengen nach Ladakh geliefert. Von den in Baltistan hergestellten Wollschals und Wolldecken, die wegen ihrer Weichheit sehr beliebt waren, verblieb der größte Teil im eigenen Land. Der Rest wurde nach Ladakh, Lhasa und Kashmir exportiert. Hashmatullah Khan erwähnt des Weiteren den Export von Schmucksteinen, von denen grüne Serpentine insbesondere in Kaschmir sehr beliebt waren. Als wesentliche Importgüter werden von ihm Stoffe, Tee, Eisen und Zucker erwähnt. Nach Matthias Schmidt (S. 54) war Salz eines der wichtigsten Importgüter und es bestand eine völlige Abhängigkeit von Lieferungen aus Ladakh. Leider gibt Schmidt zu dieser interessanten Feststellung keine verlässliche Quelle an. Mit der Öffnung der Grenzen nach Kaschmir und dem übrigen Teilen Indiens erwuchs den Einwohnern von Baltistan die Möglichkeit, durch Fremdarbeit ihre Einnahmen zu verbessern. Hashmatullah Khan schreibt hierzu: „This trade with other countries is a good way of increasing the national income, which however, is not enough to feed the entire population. People therefore seek employment as labourers and servants in Kaschmir or in the hilly areas of Hindustan in spring. This work bridges the gap in the national income.”

Die Fremdarbeit hat auch heute eine wachsende Bedeutung für das nationale Einkommen der Bewohner von Baltistan. Für Gilgit-Baltistan wird berichtet, dass der Anteil der männlichen Bevölkerung, der außerhalb dieser Region arbeitet, von 24 % im Jahr 2001 auf 26 % im Jahr 2005 angestiegen ist. Mit der Zugehörigkeit von Baltistan zum Wirtschaftsraum Pakistans, dem Bau der Straßenanbindung an den Karakorum-Highway und der Vervierfachung der Einwohnerzahl seit 1911 haben sich aber die ökonomischen Verhältnisse derart verändert, dass der traditionelle Handel heute keine Rolle mehr spielt, zumal die Grenzen zu Ladakh und Kaschmir seit 1947 geschlossen sind. Parallel dazu erlebt Skardu als das wichtigste Handelszentrum von Baltistan einen gewaltigen Aufschwung, so dass sich dieser Ort heute zur Großstadt entwickelt. Wesentlich bescheidenere Ansätze zur Veränderung werden in Khaplu, dem Verwaltungszentrum des Gangche-Distrikts, sichtbar.

Abbildung 72: Skardu, das aufstrebende Wirtschaftzentrum von Baltistan (Oktober 2008)

Abbildung 73: Einkaufsstraße in Khaplu (Oktober 2007)

3. Politische Strukturen und Lebensbedingungen

Zu den Herrschafts- und Lebensverhältnissen in der Region des heutigen Baltistan bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts liegen uns keinerlei Quellen vor.

3.1. Periode der bekannten Königreiche (16. Jahrhundert bis 1842)

Über die Lebensbedingungen in Baltistan von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zum endgültigen Ende der Eigenständigkeit seiner Königreiche im Jahre 1842 ist nur wenig bekannt. Für die primär agrarisch geprägte, mittelalterliche Gesellschaft jener Zeit sind Maßstäbe, die für die Beurteilung und Bewertung der heutigen, modernen Entwicklungen maßgeblich sind, nicht anzulegen. Immerhin erwirtschaftete die Gesellschaft in Baltistan in dem hier zu behandelnden Zeitraum so viel an Gütern, dass staatliche Strukturen finanziert werden konnten, die ihren Bürgern ein akzeptables Maß an innerer Ordnung und Sicherheit nach Außen garantieren konnten. Die in Baltistan heute vorzufindenden Baudenkmäler aus dieser Zeit zeigen auch, dass die Gesellschaft fähig war, bedeutende Kulturleistungen zu finanzieren. Die Aufrechterhaltung der staatlichen Strukturen im alten Baltistan wurde über Abgaben und Dienstleistungen sichergestellt. Dabei waren Abgaben in Form von Anteilen aus der landwirtschaftlichen Produktion zu leisten. Die wichtigste Dienstleistung war zweifellos der Waffendienst. Auch wenn die Königreiche jeweils von einem in der Literatur häufig als autokratisch bezeichneten Herrscher regiert wurden, setzte der Bestand solcher Gemeinwesen einen Konsens zwischen Herrscher und Untertanen voraus, ohne den diese Herrschaftsgefüge keinen dauerhaften Bestand haben konnten.

Als Quellen für die folgenden Erläuterungen werden zuförderst die Berichte von Captain Wade, Godfrey Thomas Vigne, das Shigar Nāma und ladakhische Herrscherurkunden berücksichtigt. Informationen, die von Personen stammen, die 60 bis 130 Jahre nach der Übernahme der Macht in Baltistan durch die Dogra gelebt haben, oder Nachrichten aus der sogenannten müdlich überlieferten Geschichtstradition, die Eingang in die entsprechenden Darlegungen von Hashmatullah Khan, Banat Gul Afridi, Richard M. Emerson sowie von Claudia Polzer und Matthias Schmidt gefunden haben, werden hier - von begründeten Ausnahmen abgesehen - nicht herangezogen oder diskutiert.

3.1.1. Staat, Volksgruppe und Territorium

Es ist schon deshalb schwierig, allgemeine Aussagen über die politischen und sozialen Strukturen in alten Baltistan zu treffen, weil der Name Baltistan - „Land der Balti“ - zwar heute eine weitgehend fest umrissene geographische Region kennzeichnet, die aber zu keinem Zeitpunkt seiner Geschichte ein einheitliches Staatswesen darstellte. Es ist zwar offenkundig, dass heute der Name Baltistan und die Bezeichnung seiner Bewohner als Baltipa identitätsstiftend für seine Bevölkerung ist, zudem sich diese Bewohner durch das sogenannte Balti als Sprache verbunden fühlen. Balti als Sprache zählt zu den westtibetischen Dialekten und ist eng verwandt mit der Sprache von Purik, dessen Bewohner ebenfalls dem islamischen Glauben angehören. Purik war in der Vergangenheit zwischen den Herrschern von Skardu und Ladakh heftig umkämpft und wird heute von Indien verwaltet. Sprachwissenschaftler konstatieren (siehe Zeisler, S. 601), dass Balti als Sprache wiederum in sechs verschiedene Dialekte unterteilt wird, nämlich Rondu, Shigar, Skardu, Khaplu, Kharmang und Chorbat, womit außer Kiris fünf der wichtigsten Herrschaftsgebiete genannt werden, die die Macht über die Region Baltistan unter sich aufteilten.

Für Baltistan kennen wir nur zwei kurze Perioden, in denen dieses Land unter einer einheitlichen politischen Führung stand. Die zweite dieser Perioden betraf den kurzen Zeitraum zwischen ca. 1820 und 1840. In dieser Zeit hatte Ahmad Shah, König von Skardu, die übrigen Herrschaftsgebiete von Baltistan unterworfen. Vigne (S. 255) bezeichnet diesen Herrscher als Monarch von Khaplu, Shigar, Kiris, Kartaksho, Tolti, Parkuta und Rondu. Er erwähnt, dass die Herrscher von Gilgit, Nagar und Hunza seine Führungsrolle über ihre Gebiete anerkannten. Unerwähnt lässt er an dieser Stelle, dass Ahmad Shah auch Astor erobert hatte. Vigne gibt auch die Aufschrift des Siegels von Ahmad Shah wieder, die nach Vignes Angaben übersetzt  folgende Wortlaut hatte: „Ali Sher, der Löwe des gerechten Gottes, durch den Ahmad Shah den Sieg über seine Feinde errungen hat.“ Ein Hinweis  auf ein Land, dass er vereinigt hatte und über das er regierte, ist darin nicht enthalten. Ahmad Shah änderte nach der Eroberung der übrigen Königreiche Baltistans auch nicht die interne Verwaltungsstruktur der eroberten Gebiete. Von kurzzeitigen Herrscherwechseln in Khaplu und Shigar einmal abgesehen, führten Angehörige der alten Herrscherhäuser die Amtsgeschäfte in ihren Ländern mit ihren traditionellen Amtsträgern und Verwaltungsstrukturen fort und verfügten weiterhin über ihre militärische Infrastruktur einschließlich ihrer intakten Verteidigungsanlagen, wie die Besuche der Bergfestungen von Shigar und Khaplu durch Vigne zeigen. Die Oberherrschaft von Ahmad Shah bedeutete für die Unterlegenen primär die Verpflichtung zur Leistung von Abgaben an den Oberherrn und Gefolgschaft in militärischen Angelegenheiten. Dies zeigt sich an dem Konflikt zwischen Ahmad Shah und Ali Sher Khan (III) von Kharmang, der kurz vor dem Besuch Vignes, also vor 1835, ausgebrochen war. Ali Sher Khan (III) berichtet darüber selbst, dass Ahmed Shah veranlasst hatte, dass die vereinten Truppen von Ali Khan aus Rondu, Haidar Khan aus Shigar, Ghulam Khan aus Parkuta, Khuram Khan aus Kiris, Daulat Ali Khan aus Khaplu und Ahmad Khan aus Tolti gegen ihn ins Feld zogen. Die Unterstellung unter die Oberherrschaft des Königs von Skardu stellte zwar eine Machterweiterung des Eroberers dar, wurde aber nicht als eine Vereinigung eines eigentlich zusammengehörenden, geteilten Landes verstanden. Deutlich wird dies an den Forderungen Murad Khans von Skardu gegenüber Imam Quli Khan in den fünfziger Jahren des 17. Jahrhunderts, als ersterer den Versuch unternahm, Shigar unter seine Oberherrschaft zu bringen. Das Shigar Nāma berichtet hierzu (Behrouz, S. 124-129), dass Murad Khan sich in einem Schreiben an Imam Quli Khan darüber beschwerte, dass dieser ihn auf dem letzten Feldzug nach Gilgit nicht persönlich begleitet hatte. Er forderte Imam Quli Khan mit Drohungen auf, ihm die Jahresernte von Shigar zu überlassen, nach Skardu zu kommen und ihm als Oberherrn zu huldigen.

Vor diesem Hintergrund wird auch das Verhalten von Ali Sher Khan (III) während der Eroberung von Baltistan durch die Dogra verständlich. Ali Sher Khan (III) hatte Zorawar Singh, dem Feldherrn der Dogra, die Zusage erteilt, ihn bei dessen Feldzug gegen Ahmad Shah zu unterstützen. Vorausgegangen war ein Zerwürfnis mit Ahmad Shah, welches die vorstehend beschriebene militärische Aktion gegen den Herrscher von Kharmang zur Folge hatte. Ali Sher Khan (III) ging für kurze Zeit nach Purik ins Exil, aus dem er nach einer vorgetäuschten Versöhnung mit Ahmad Shah nach Kharmang zurückkehrte. Für ihn war Ahmad Shah offenkundig nicht etwa der große Führer von Baltistan, sondern ein Fremdherrscher aus Skardu, den er ihm Interesse seiner eignen Herrschaftsausübung in Kharmang mit Unterstützung von außen loswerden wollte. Letzteres ist ihm auch gelungen.

Zu der Feststellung, dass es einen Staat Baltistan oder Klein-Tibet in der Vergangenheit niemals gegeben hat, gesellt sich die Unsicherheit, welche Gruppen in dieser politisch in Kleinstaaten aufgesplitterten Region sich als Balti bezeichneten bzw. von Dritten als solche bezeichnet wurden. Der zentralasiatische Eroberer Mirza Haidar (S. 410), der zu Beginn der 30er Jahre des 16. Jahrhunderts von Zentralasien aus über den Karakorum-Pass zunächst nach Nubra und anschließend nach Ladakh (Maryul) vordrang, ordnet Balti in den Großraum Tibet ein. Nach ihm umfasste das Land (!) „Balti“ unter Anderem die Distrikte Purik, Khaplu, Shigar, Skardu, Rondu und "Ladaks". Nach den ladakhischen Herrscherurkunden des 18. Jahrhunderts wurde Purik und Khaplu nicht den Balti zugeordnet. Als Balti (sbal-ti) wurden hiernach explizit nur die Bewohner von Kartaksho, Skardu, Shigar und Kiris bezeichnet.

In diesem Zusammenhang ist auch das Verständnis der Bezeichnung Balti durch Alexander Cunningham von Interesse, der zwar Baltistan nie besucht hat, sich aber im Jahre 1847 in Ladakh aufhielt, von wo aus er Informationen über Baltistan sammelte. Nach Cunningham ist das Land der Balti mit dem Königreich Skardu gleichzusetzen, deren Könige er als „Gyalpos of Balti“ behandelt (S. 35). Die Teilgebiete von Baltistan zählt er wie folgt auf (S. 27): „The Tibetan districts are Khapolor, Chhorbad, and Keris, on the Shayok; Khartakshe, Totte, and Parguta, on the Singgé-chu; Shigar, on the Shigar river; and Balti and Rongdo, on the Indus.“ Andererseits spricht er auch (S. 34) von Skardu als “Balti proper”, was wiederum andeutet, dass er sich nicht ganz sicher ist, ob unter dem Oberbegriff Balti nicht auch andere Gebiete des heutigen Baltistans zu subsummieren sind. Cunningham erwähnt auch (S. 34), dass Balti oder Balti-yul („Land der Balti“) von den Tibetern als Nang-kod bezeichnet wurde. Hierbei ist Nang-kod wegen der Verwechselbarkeit von d und ng im Schrifttibetischen sicherlich eine Fehlschreibung von Nang-kong, was wiederum der bei Francke belegten Schreibweise Nang-gong entspricht. Nach Francke (S. 32) erwähnt die Chronik La-dvags rgyal-rabs ein „Nang-gong an der Route von (oder durch) Balti“ (sbal-ti srang gi nang-gong) neben „Shi-dkar im unteren Landesteil“  (smad kyi shi-dkar) als Gebiete, die Gung-srong ´du-rje, einer der  Könige des tibetischen Großreiches, im 8. Jahrhundert n. Chr. erobert hat. In der gleichen Chronik  (Francke, S. 38) wird der berühmte König Ali Sher Khan von Skardu als „A-li Mir, dMag-dpon von Nang-gong“ aufgeführt, wobei in einer weiteren Handschrift des La-dvags rgyal-rabs Nang-gong durch Skar-rdo (= Skardu) ersetzt erscheint. K. Marx hat die Wortbedeutung von Nang-gong wie folgt kommentiert (Francke, S. 107): „Nang-gong, „central and upper [discricts],“ viz. of Baltistan.“ Nicht gleichzusetzen mit Nang-gong ist das ebenfalls von Francke (S. 193) angeführte sbal-ti (!) nang-khongs „zum Inneren von Baltistan gehörig“, welches dem aus ladakhischen Herrscherurkunden belegten sbal-ti nang-(bs)kor „innerer Kreis der Balti“ inhaltlich entspricht und das Kerngebiet von Baltistan mit Skardu und Shigar etc. bezeichnete. Vigne hat während seiner Aufenthalte in den Jahren 1835-1838 Bewohner von Baltistan danach befragt, was sie unter Klein-Tibet verstehen und überraschender Weise folgende Antwort erhalten (S. 250). „The Bultis, or natives of Little Tibet say, that the country is divided into several Tibets, and that Ladak, Iskardo, Khopalu, Purik, Nagyr, Gilghit and Astor, &c., are distinct Tibets.”

Aus dem Vorstehenden ist zu entnehmen, dass der Begriff Balti im Laufe der Geschichte sowohl als Bezeichnung für die Angehörigen einer bestimmten Volksgruppe als auch als Name für eine bestimmte Region erhebliche Veränderungen erfahren hat.

3.1.2. Die Herrscher und ihre Untertanen

      

   

Abbildung 74: Ahmad Shah, der letzte eigenständige Herrscher von Skardu. Quelle: Vigne, Vol. II

 

Abbildung 75:Ein Nachfahre der Herrscher von Tolti mit seinem Sohn im Jahre 1913. Quelle: De Filippi, S. 40

 

Abbildung 76: Mohammed Sher Ali Khan, ein Nachfahre der Könige von Khaplu im Jahre 1904. Quelle: Duncan, S. 208

 

Abbildung 77: Nasir Ali Khan, ein Nachfahre der Könige von Khaplu im Jahre 1904. Quelle: Duncan, S. 208

Während Afridi an mehreren Stellen seines Buches von den allgemein als „Cho“ titulierten Herrschern in Baltistan als „despotic rulers“ spricht, charakterisiert Matthias Schmidt  (S. 105) die Herrscher von Shigar als unumschränkte Fürsten und Autokraten. Schmidt (S. 108f) spricht von „totalitärer Herrschaft“ der Cho und beschreibt, dass die Bewohner Shigars als Bauern der Willkürherrschaft ihrer Könige ausgeliefert waren: „In einem System, in dem Besitzrechte mit Diensten und Abgaben verknüpft sind, und jederzeit wieder entzogen werden können, sind die Herrschenden in der Lage, Steuern und Dienste nach ihrem Willen zu erzwingen.“ Andererseits zitiert Schmidt (S. 105) einen Bericht von Vigne (S. 271f), nach dem die „Bewohner Shigars noch im 19. Jahrhundert ihren Regenten verehrten.“ Der Kern der Beobachtung Vignes war, dass die Bauern bei der Begegnung mit Ahmad Shah jeweils mit einer Hand dessen Füße berührten und anschließend die Handfläche an die Stirn führten. An anderer Stelle beschreibt Schmidt diese von ihm auch als „unterwürfig“ charakterisierte Geste der Verehrung des Herrschers wie folgt (Polzer-Schmidt, S. 184): „The described submissive behavior of the Shigar Valley population is not surprising. According to oral history transmitted up to the present, the people had to obey the orders of the raja.” Zu dem Thema der Ausübung von Zwang führt Schmidt eine langatmige Diskussion darüber, ob die Bewohner des Shigar-Tales die ihnen auferlegten Abgaben und Dienstleistungen freiwillig geleistet hätten, was befremdlich anmutet, da mir eigentlich kein Staat bekannt ist, in dem Bürger ihre Steuern auf absolut freiwilliger Basis abliefern. Ergänzt wird dieses finstere Bild einer Gewaltherrschaft in Baltistan durch die schaurige Geschichte von der Beseitigung der Brüder des jeweiligen Herrschers von Shigar als potentielle Rivalen (Schmidt, S. 105): „Zur Sicherung der eigenen Regentschaft eliminierten die Amacha-Fürsten potentielle Rivalen. Dies betraf die Brüder und Halbbrüder des jeweiligen Fürsten, die entweder getötet oder aus dem Land verwiesen wurden.“ Die hierbei zitierte Quelle ist eine zeitgenössische Äußerung des Wesirs Ahmad aus Shigar über Ereignisse, die vor mehr als fünfhundert Jahren stattgefunden haben sollen und deren historische Relevanz, wie die aller Sagen und Märchen aus Baltistan, hier nicht ernst genommen werden muss.

3.1.2.1. Familiendynastien

Die sechs wichtigsten Königreiche von Baltistan wurden von Herrscherfamilien regiert, die als Familiendynastien über mehrere Jahrhunderte hinweg in der Regel durch Erbfolge ihre Machtpositionen sichern konnten. Von den Herrscherfamilien der drei größten Königreiche Baltistans Skardu, Shigar und Khaplu ist bekannt, dass sie Dynastie-Namen trugen. Die Herrscherfamilie von Shigar trug den Namen Amacha (Behrouz: Amāčah; Cunningham: Ámáchah; Francke: ´Āmāchāh), die Herrscherfamilie von Skardu wurde als Makpon (Afridi und Hashmatullah Khan: Maqpon; Tibetisch: dMag-dpon) bezeichnet und die Königsfamilie von Khaplu trug den Namen Yabgo (Cunningham und Francke: Yagu). Letztendlich ist noch zu erwähnen, dass Kartaksho wenigstens zeitweise von einer Herrscherfamilie regiert wurde, die den Namen Anthog trug. 

Der einzige historisch belegte Dynastiewechsel in der Region Baltistan fand im 17. und 18. Jahrhundert in Kartaksho statt. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts regierte in Kartaksho Mirza Khan, der der Anthog-Familie angehörte und zeitweilig als Statthalter für Adam Khan Skardu verwaltete. Nachdem Kartaksho in den 50er Jahren des 17. Jahrhunderts von Murad Khan erobert worden war, setzte dieser dort seinen Bruder Sher Khan als Herrscher ein, womit die Makpon-Familie von Skardu in diesem Landesteil von Baltistan die Herrschaft übernahm. Nun belegt ein Brief des ladakhischen Königs Tshewang Namgyel (Tshe-dbang rnam-rgyal, 1753 – 1782), dass in Kharmang nach 1762 eine Revolte gegen den Abdul Rahim Khan stattfand, welcher als Mitglied der Anthog-Familie die Macht in Kartaksho innehatte. Es muss also nach der Machtübernahme der Makpon-Familie unter Sher Khan und nach dessen Absetzung in den 80er Jahren des 17. Jahrhunderts erneut einen Wechsel zu der Anthok-Familie stattgefunden haben.

 3.1.2.2. Erbfolge

Nach der natürlichen Erbfolge folgte der älteste Sohn nach dem Tod des Vaters diesem auf den Thron nach. Allerdings ging die größte Gefahr hierbei von den Brüdern des Verstorbenen aus, die nicht selten, insbesondere bei Minderjährigkeit des Thronfolgers, die Macht an sich rissen. So übernahm in Skardu zwar nach dem Tod von Ali Sher Khan dessen ältester Sohn Ahmad Khan die Regierungsgeschäfte, nach dessen frühem Tod riss aber sein Bruder Abdal Khan die Macht an sich, während Ahmad Khans Sohn Murad Khan unberücksichtigt blieb. Auch nach der Absetzung von Abdal Khan durch die Invasionstruppen des Moghul Kaisers Shah Jahan im Jahre 1636 fiel das Amt des Herrschers nicht an Murad Khan, sondern an seinen zweiten Onkel Adam Khan. Erst nach Adam Khans Tod bestieg Murad Khan mit Billigung des Kaisers Shah Jahan den Thron von Skardu. Übrigens erging es Murad Khans Sohn Muhammad Rafi Khan nicht anders als seinem Vater. Bei dessen Tod war er noch minderjährig. Die Verfügung seines Vaters über die Thronfolge wurde grob missachtet und sein Onkel Sher Khan aus Kartaksho übernahm die Macht in Skardu, wobei er seinen Neffen internierte. Zwar erlangte Muhammad Rafi Khan nach der Niederlage von Sher Khan im ersten Krieg gegen Imam Quli Khan von Shigar den ihm angestammten Thron, er wurde aber danach ein zweites Mal von seinem Onkel abgesetzt und in Parkuta in Gefangenschaft gehalten. Vergleichbares war übrigens etwa ein Jahrzehnt zuvor in Khaplu passiert, wo nach dem Tod von Hussain Khan dessen Bruder Rahim Khan die Herrschaft übernahm und die Frau seines Bruders nebst deren erbberechtigten, minderjährigen Söhnen Yakub und Babur zwang, nach Ladakh ins Exil zu gehen. Auch für auswärtige Mächte, wie z. B. Ladakh, war es offenbar eine Selbstverständlichkeit, dass man nach der Absetzung eines im Krieg unterlegenen Königs wiederum ein Mitglied aus dessen Familiendynastie als Herrscher einsetzte.1723 vertrieben ladakhische Invasionstruppen den Herrscher von Shigar Azam Khan, nachdem dieser zunächst Skardu erobert hatte und das Königreich Khaplu, welches traditionell mit Ladakh verbündet war, bedrohte. Als Nachfolger von Azam Khan in Shigar setzte der ladakhische Truppenführer Tshülthrim Dorje (Tshul-khrims rdo-rje) dessen Bruder Ali Khan ein, während er in Skardu als Nachfolger des während der Kriegshandlungen mit Shigar verstorbenen Murad Khan dessen Sohn Mohammad Zafar Khan inthronisierte.

Weitere Gefahren für die Nachfolge konnten von den Brüdern des rechtmäßigen Thronfolgers ausgehen. Hierzu liegt uns ein Beleg aus Khaplu vor, wo im Jahre 1812 nach dem Tod des Königs Yahya Khan die Halbbrüder des Thronfolgers Daulat Ali Khan Ansprüche auf die Herrschaft erhoben. Letztendlich wird uns ebenfalls aus Khaplu der Fall überliefert, dass ein Sohn (Dabla Khan) noch zu Lebzeiten seines Vaters (Hatam Khan) diesen vom Thron verdrängen wollte.

3.1.2.3. Landesteilungen

Uneinigkeiten über die Nachfolge als Herrscher innerhalb der Dynastie konnten zur Teilung eines Landes führen. So teilten sich in den 50er Jahren des 17. Jahrhunderts die Brüder Yakub und Babur die Herrschaft über Khaplu, dessen geographische Besonderheiten – Verteilung des Herrschaftsgebietes auf drei Täler – eine Landesteilung begünstigten. Nachdem Yakub von seinem Bruder Babur aus Khaplu vertrieben worden war, erlangte er nach der Niederlage seines Onkels Sher Khan im ersten Krieg gegen Imam Quli Khan von Shigar die Herrschaft über Khaplu zurück, musste aber diese mit seinem Cousin Hatam Khan teilen, der über das Hushe-Tal mit der Festung Saling regierte. Vergleichbare Gründe können zur Separierung des Baraldo-Tales vom Königreich Shigar zu Beginn des 19. Jahrhunderts geführt haben. Inwieweit ein Streit zwischen der Anthog-Familie und einer Seitenlinie der Makpon-Dynastie von Skardu in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts um die Nachfolge in Kartaksho die Ursache für die Dreiteilung dieses Landes in die Gebiete Kharmang, Tolti und Parkuta war, ist unbekannt. Für Ali Sher Khan (II) von Skardu erleichterte diese Dreiteilung zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Nachfolgeregelung für das Königreich Skardu. Während sein Sohn Ahmad Khan die Herrschaft in Skardu übernahm, wurde die Regierung von Parkuta an dessen Bruder Ghulam Shah übertragen.

3.1.2.4. Nachfolgeregelungen

Die Herrscher von Baltistan bemühten sich, noch zu ihren Lebzeiten ihre Nachfolge zu regeln. Der Herrscher von Skardu Murad Khan, dessen drei Söhne bei seinem Ableben noch minderjährig waren, hatte vor seinem Tod testamentarisch bestimmt, was nach seinem Tod zu tun sei (Behrouz, S. 130). Allerdings wurden seine Anweisungen nicht befolgt. Als Vigne 1835 Skardu erreichte, war der von Ahmad Shah zu seinem Nachfolger bereits auserkorene älteste Sohn Shah Murad an einer Krankheit kurz vor Vignes Ankunft gestorben (Vigne, S. 255). Bei der anschließenden Nachfolgeregelung überging Ahmad Shah seinen Sohn Mohammad Shah, dem er nach Vignes Darstellung vorwarf, während seiner Amtsführung als Herrscher von Astor Amtsmissbrauch begangen zu haben, weshalb er als zur Herrschaft in Skardu unfähig eingestuft wurde. Ahmad Shah bestimmte deshalb einen seiner übrigen Söhne, nämlich Mohamed Ali Khan, zu seinem Nachfolger. Mohamed Ali Khan war aus einer Ehe mit einer Prinzessin aus Shigar hervorgegangen. Diese Wahl Ahmad Shahs führte zu einem Zerwürfnis zwischen Mohamad Shah und seinem Vater, in dessen Folge der Prinz nach Purik floh, wo er sich mit Ahmad Shahs ärgstem Widersacher, dem Dogra-Feldherrn Zorawar Singh, verbündete.

3.1.2.5. Inauguration der Thronanwärter

Aus Skardu ist uns auch durch Vignes Bericht (S. 251) bekannt, dass die auserkorenen Nachfolger bei Erreichen eines bestimmten Alters durch eine Inaugurationszeremonie als Thronfolger eingesetzt wurden. Diese Amtseinführungszeremonie wurde auf einem Stein in der unweit von Skardu gelegenen Ortschaft Shigri (auch Shagari oder Shigari geschrieben) durchgeführt. Dieser Stein hatte der Sage nach eine Beziehung zur Entstehung der Makpon-Dynastie. Nach der Entstehungsgeschichte dieser Dynastie pflegte in alter Zeit auf diesem Stein ein als Heiliger angesehener Fakir zu verweilen, aus dessen Ehe mit einer Prinzessin das Geschlecht der Könige von Skardu hervorging. Bei der Inaugurationszeremonie wurde nach Vignes Schilderung der als Nachfolger auserkorene Prinz inmitten einer großen Volksversammlung auf diesen Stein gesetzt, wo ihm zuerst der regierende Herrscher seine Ehrerbietung (Vigne schreibt Salaam) erwies. Danach folgten Ehrerweisungen durch die Einwohner von Shigari und die Truppenführer von Ahmad Shahs Armee, deren Zahl Vigne mit über einhundert angibt. In diesem Zusammenhang wurden dem zum Thronfolger auserkorenen Prinzen Geschenke überreicht. Die anschließenden Feierlichkeiten schlossen ein Polo-Spiel, einen Schießwettbewerb, Musikdarbietungen und Tanzvorführungen ein. Zum Abschluss der Feierlichkeiten begab sich der Prinz zum Harem seines Vaters, wo er die Glückwünsche seiner weiblichen Verwandten entgegen nahm.

   

Abbildung 78: Inaugurationsstein in der Ortschaft Shigari im Skardu-Tal. Quelle: Afridi, gegenüber von S. 35

 

Abbildung 79: Polo-Spiel in den Jahren 1835-1838. Quelle: Vigne, S. 288

3.1.2.6. Genealogien

Mit dem Charakter einer allein schon durch die Tradition legitimierten, altüberkommenen Herrschaft der Familiendynastien Baltistans korrespondiert die Bedeutung von genealogische Auflistungen vergangener Herrscher, die einerseits dokumentieren sollten, dass die Herrscherhäuser schon vor langer Zeit Bestand hatten, und die andererseits die Gründung dieser Häuser auf besondere Persönlichkeiten zurückführen, die zur Legitimation der Herrschaft der jeweiligen Dynastie dienen. Die erste Veröffentlichung solcher Genealogien verdanken wir Alexander Cunningham (S. 29-37), der 1854 entsprechende Listen für alle sechs Königreiche von Baltistan veröffentlichte. Die wichtigsten dieser Listen sind die von Khaplu, die 67 Namen umfasst, und die von Shigar, die 27 Herrscherpersönlichkeiten nennt. Für die Genealogie der Könige von Shigar nennt Cunningham als Quelle Suliman Khan, der ihm in der Zeit von Cunninghams Aufenthalt in Ladakh (1847) entsprechende Unterlagen zur Verfügung gestellt haben muss. Für die übrigen genealogischen Listen nennt Cunningham keine Quellen. Cunningham fügte seinen Herrscherlisten teilweise Datierungen der Herrschaftszeiten bei, die aber allesamt frei erfunden sind und insoweit historisch irrelevant sind.

In diesem Zusammenhang ist von Wolfgang Holzwarth (S. 8f) die These aufgestellt worden, dass die genealogischen Listen aus Baltistan wohl eher das Produkt der Forschung über Baltistan, also der Nachfragen von Forschern wie Cunningham und Biddulph, seien und somit für die alte Gesellschaft der Königreiche von Baltistan keine Bedeutung gehabt haben. Holzwarths These hierzu ist allein schon deshalb abwegig, weil ihm wohl entgangen ist, welche große Bedeutung Genealogien für die Begründung der Legitimation von Herrschaft im sonstigen tibetischen Großraum bekanntermaßen besaßen. Schon über die tibetischen Könige der Yarlung-Zeit liegen alte genealogische Listen vor. Nach der tibetischen Geschichtstradition sollen diese Könige entweder vom Himmel herabgestiegen sein oder von Mahāsamata, einem sagenhaften indischen Weltenherrscher abstammen. Auch die Könige von Ladakh, des unmittelbar östlichen Nachbarlandes von Baltistan,  führten ihre Herkunft auf die Herrscher des tibetischen Großreichs zurück, und so ist es nicht verwunderlich, dass in Khaplu als dem Königreich, welches mit dem Königshaus von Ladakh über einen längeren Zeitraum nicht nur familiär, sondern auch politisch verbunden war, die längste genealogischen Liste seiner Herrscher auftauchte. Dabei ist es irrelevant, ob die älteren der in solchen  Listen aufgeführten Persönlichkeiten überhaupt existiert haben. Auch ist es prinzipiell nicht erstaunlich, dass als Stammväter der Könige von Khaplu Persönlichkeiten wie Sultan Sikander (Alexander der Große), Sultan Ibrahim (= Abraham, der Stammvater Israels, der im Islam als Prophet angesehen wird) und Sultan Ishák (Isaak) auftauchen. Gerade deren Nennung bedeutete eine Erhöhung des Prestiges des Königshauses von Khaplu, die als Mohammedaner wohl kaum Götter des Glaubens der alten Tibeter als Stammväter aufführen konnten.

Im Übrigen kann für die von Cunningham veröffentlichte Liste der Könige von Khaplu festgestellt werden, dass die letzten sieben der aufgeführten Herrscher nachweislich vom 17. bis zum angehenden 19. Jahrhundert in Baltistan regiert haben und dass Bairam, der 57. Herrscher von Cunninghams Liste, mit Sicherheit identisch ist mit dem von Mirza Haidar (S. 422) erwähnten Bahrám Chu, der 1531 beim Einmarsch des aus Zentralasien kommenden Moghul-Khans Sultan Said Khan in Khaplu auf den Eroberer wartete. Auch für die meisten der von Cunningham aufgelisteten Herrscher der übrigen Königreiche, die wir dem 17. und 18. Jahrhundert zuordnen können, kann gesagt werden, dass sie als historisch nachweisbare Persönlichkeiten gelebt haben. Es müssen also in den Herrscherhäusern von Baltistan schon vor dem endgültigen Verlust der Selbstständigkeit im Jahre 1842 fortlaufend geführte genealogische Aufzeichnungen existiert haben, deren Inhalt man Cunningham zugänglich machte. 

3.1.2.7. Charismatische Stellung der Herrscher

Konstitutive Elemente der Legitimation von Herrschaft im tibetischen Großraum waren Ermächtigungen durch übernatürliche Kräfte, Abstammung von oder Identifizierung mit Göttern, herausragende Machtfülle und besondere Eigenschaften, wie herausragende charakterliche Qualitäten, Gerechtigkeitssinn, Übernahme des Schutzes der Religion etc. Für die Könige von Ladakh, des südöstlichen Nachbarn von Baltistan, finden sich die entsprechenden Attribute in den Intitulationes genannten Formeln von Herrscherurkunden. Von diesen Attributen seine hier einige Beispiele aufgeführt (Schuh, S. 37, 43, 71, 88):

Geboren in dem höchsten Geschlecht der (Götter) ´Od-gsal lha; in der makellosen Geburtenfolge der Cakravartin-Könige dieser Welt geboren; dem von den Göttern selbst die Macht über das große, weite Königreich verliehen wurde; die (buddhistische Lehre) befolgender Dharmakönig; höchster Gott, der durch die harten Gesetze der beiden Arten von Verhaltensvorschriften die Untertanen auf gute Weise beschützt und der in allen Himmelsrichtungen und in allen Zeiten über die Widerstände der Anderen vollständig siegreich ist; glorreicher Brahma der Erde; Indra der Menschen; dem durch die Macht des ewigen Himmels zum Kopfschmuck von hundert Göttern tatsächlich die Macht verliehen wurde usw.

Attribute der Herrscher des südlichen Jammu und Kaschmir können wir den Inscriptiones von Sendschreiben entnehmen, die Siegfried Weber veröffentlicht hat. Hiervon seien hier nur einzelne Beispiele aufgeführt (Weber, S. 139, 302 und 315f ):

Mit dem Himmel verbundener Herr; Herrscher über die Welt; Schatzhaus des Überflusses; Errichter der Banner der Weltherrschaft; Thronsitz des Kalifats; Palast des Himmels; Quelle der Großmut und der Güte; Ansammlung zahlloser guter Eigenschaften; Zuflucht der Welt usw.

Für die Herrscher von Baltistan finden sich hierzu Beispiele in der Verschronik Shigar Nāma, die zeigen, dass sowohl die transzendente Verankerung der Herrschaft als auch zweifellos idealisierende Ansprüche an die Qualitäten der Herrscher für die Begründung von Herrschaftsausübung konstitutiv waren. Hierzu einige Beispiele entsprechender Attribute (Behrouz, S. 93, 99-101, 103, 108f, 167, 170, 191 etc.):

Beschützer des Islams und der Religion; von Gott eingesetzter Führer; rechtgläubiger König; König, der das Himmelsgewölbe zum Sklaven hat; Quelle der Freigebigkeit und des Großmutes; Fürst des Zeitalters und König der Welt; Säule des Reiches Tibet; König der Könige; hochgeborener König; Herrscher der Erde und der Zeit; König, dessen Hof dem Firmament gleicht; Welteroberer; Thron des Glücks und Krone des Sieges usw.

Zu der charimatischen Stellung des Königsamtes korrespondierte das ehrerbietige Verhalten derer, die zum Herrschaftbereich des Amtsinhabers gehörten. Insofern ist das oben geschilderte Berühren der Füße von Ahmad Shah, des Herrschers von Skardu, nur der Ausfluß der überragenden Stellung, die die Untertanen seinem Amt zumaßen. Im Übrigen sind derartige Verhaltensweisen auch heute für viele Menschen nicht befremdlich, wenn es sich um religiöse Würdenträger (Dalai Lama, Papst) handelt.

3.1.2.8. Moralische Leitregeln für die Herrschaftsausübung

Die Ausübung von Macht in einer traditionellen Herrschaftsform setzt einen Grundkonsens zwischen den Herrschern und ihren Völkern voraus, wobei wechselseitig die Erfüllung bestimmter  Handlungserwartungen angenommen bzw. gefordert wird. Dabei ist zu beachten, dass zwischen Herrschern und Beherrschten in Baltistan, was die Machtausübung betraf, niemals eine klare Trennlinie verlief. Insofern die Könige durch Delegation von Macht bzw. Mitspracherechten an Amtsträger der Staatsverwaltung wie Wesire, Truppenführer unterschiedlichen Grades, Steuerverwalter, Ortsvorsteher und an Vertreter bestimmter clanartiger Gruppen, wie die zwölf , bei einer Armee, die als Volksmiliz organisiert war, einem strukturierten Machtgeflecht vorstanden, hatten sie dessen vielfältige Eigeninteressen auch zu berücksichtigen. Dabei waren Ämter, die eine besondere Teilhabe an der Macht implizierten, auch mit Privilegien verknüpft, was sicherlich zur Stabilisierung der Herrschaftsausübung beitrug.

Im Hinblick auf die Könige in Baltistan bedeutete dies zunächst die Forderung nach einer Befolgung von bestimmten  – sicherlich als Ideale formulierten -  moralischen Grundsätzen, die sich aus dem islamisch-tibetisch geprägten Kulturkreis ergaben. Als einzige Quelle für diese Grundsätze dient uns das Shigar Nāma, wobei wir davon ausgehen, dass zwischen dem Verfasser dieser Verschronik und seinem Auftraggeber, dem Königshof von Shigar, eine weitgehende Übereinstimmung im Hinblick auf diese Grundsätze bestand. Im Shigar Nāma finden sich zahlreiche Formulierungen, die das Fehlverhalten von Herrschern kennzeichnen und von denen hier einige nach der Übersetzung von Behrouz wiedergeben werden.

Gewalt und Tyrannei (Behrouz, S. 169, Äußerung von Imam Quli Khan: „Macht und Glück verlassen einen König, der sich zu Gewalt und Tyrannei erniedrigt.“)
Tyrannei und gotteslästerliches Treiben (Behrouz, S. 169, Äußerung von Imam Quli Khan: „Nun lasst ab von der Tyrannei und diesem gotteslästerlichen Treiben und behütet das Volk wie eine Perlmutter. Solltet ihr das versäumen,  werdet ihr am Ende keinen glücklichen Tag erleben.“)
Eidesbruch aus Gier und irdischer Sucht (Behrouz, S. 112. S. 221: „Gott erniedrigte ihn, weil er nie seinen Eid und Schwur einhielt.“)
Missbrauch von Vertrauen und Nicht-Einhaltung von Versprechen (Behrouz, S. 123)
Mangelnde Hochherzigkeit und Gerechtigkeit (Behrouz, S. 154)
Treuebruch (Behrouz, S. 221)
Ungerechte Behandlung (Behrouz, S. 221: „Wer jemand ungerecht behandelt, dessen Kopf wird bestimmt wie eine Feder gespalten.“)
Fehlverhalten gegenüber Schutzlosen und Aneignung von Herrschaft, die jemand anderem zusteht (Behrouz, S. 221: „Er liebäugelte mit der Erbschaft seiner Verwandten und brach oft den Schutzlosen das Herz.“)
Gebieterische Behandlung der Untertanen (Behrouz, S. 221:Da er die Unterworfenen sehr gebieterisch behandelte, ging der Stern seines Glücks unter.“)

3.1.2.9. Heiratspolitik

Eheschließungen unter den Angehörigen einer Dynastie oder mit Mitgliedern anderer Herrscherhäuser von Baltistan und anderen Ländern dienten einerseits der Stabilisierung der Herrschaft innerhalb der jeweiligen Dynastie und andererseits der Friedenssicherung bzw. der Festigung bestehender Bündnisse nach außen.
 
Zum Verständnis der Eheschließungen innerhalb einer Dynastie muss man wissen, dass sogenannte Kreuzkusinenheiraten, also Eheschließungen von Söhnen eines Ehepaares mit einer Tochter eines Bruders des Vaters oder eines Bruders der Mutter in der Gesellschaft von Baltistan auch heute noch häufig vorkommen (Ursula Sagaster, S. 23) . So wurde in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf Anraten des Hofes des Moghul-Kaisers Shah Jahan der eigentlich rechtmäßige Erbe des Thrones von Skardu Murad Khan mit der Tochter seines Onkels Adam Khan, der von Shah Jahan als Herrscher von Skardu bestätigt war, verheiratet. Diese Eheschließung sollte den latenten Konflikt zwischen Onkel und Neffe um die Herrschaft in Skardu entschärfen (Behrouz, S. 86ff). Eine weitere Stelle im Shigar Nāma bestätigt, dass solche Ehen von den Angehörigen der Herrscherfamilien in Baltistan als Mittel zur Reduzierung potentieller Machtansprüche angesehen wurden. Als Sher Khan in Skardu unter Missachtung des Testaments seines Bruders Murad Khan in den 60ger Jahren des 17. Jahrhunderts die Macht an sich riss, empfahl ihm sein Bruder Ali Shah, den seines Erbes beraubten Muhammad Rafi Khan mit einer der Töchter Sher Khans zu verheiraten. Kommentar der Wesire von Sher Khan (Behrouz, S. 130f): „Daher wird er sich nie gegen unsere Führung erheben.“

Eheschließungen zwischen Mitgliedern der verschiedenen Herrscherhäusern Baltistans kamen häufig vor und wurden offenbar als standesgemäße Heiratsmöglichkeiten angesehen. So ist die Ehe zwischen einer Schwester von Murad Khan aus Skardu und Hussain Khan, dem König von Khaplu, in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts belegt (Behrouz, S. 115). Eine Tochter von Adam Khan wurde mit Imam Quli Khan von Shigar verheiratet (Behrouz, S. 88f). Eine Tochter von Murad Khan heiratete einen Sohn des Königs von Gilgit Habib Khan, was der Begründung einer Allianz zwischen Skardu und Gilgit dienlich war (Behrouz, S. 115). In der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts knüpfte Sher Khan, Murad Khans Bruder, Kontakte zum ladakhischen Könighaus und schlug vor, dass einer seiner Söhne eine ladakhische Prinzessin heiraten sollte. Es kam zur Hochzeit zwischen einem der Söhne Sher Khans und einer Prinzessin aus Ladakh. Daraufhin bat Sher Khan um die Entsendung von zweitausend Soldaten zu seiner Unterstützung (Behrouz, S. 167f). In die Regierungszeit von Hatam Khan von Khaplu fiel die Eheschließung einer Prinzessin aus dem Yabgo-Herrscherhaus von Khaplu mit dem ladakhischen König Nyima Namgyel (Nyi-ma rnam-rgyal) (1694-1729), wodurch die Allianz zwischen den Königreichen von Ladakh und Khaplu, die über hundert Jahre Bestand hatte, vertieft wurde.
  
Da die Könige von Baltistan zumeist mehrere Frauen aus unterschiedlichen Königsfamilien heirateten, konnte dies zur Verschärfung von Konflikten bei der Nachfolgeregelung führen. Der letzte unabhängige König von Skardu, Ahmad Shah, war mit einer Frau aus dem Königshaus von Kartaksho und einer Tochter der Amacha-Dynastie von Shigar verheiratet (Vigne, S. 255f). Nach dem Tod seines erstgeborenen Sohnes, dessen Mutter aus Kartaksho stammte, überging er deren zweiten Sohn Mohammad Shah und bestimmte einen Sohn seiner aus Shigar stammenden zweiten Frau zum Nachfolger, wodurch die für Ahmad Shah letztendlich fatale Kluft zwischen ihm und Ali Sher Khan (III) aus Kartaksho sich vertieft haben muss.

Die Verwandtschaft der Königshäuser von Baltistan hatte für das Miteinander der Königreiche keine nachhaltige friedensstiftende Bedeutung, wie die zahlreichen Kriege zwischen den Königreichen von Baltistan vom 17. bis zum 19. Jahrhundert belegen. Besonders deutlich wird dies am Verhältnis von Kartaksho zu Skardu unter der Herrschaft von Ali Sher Khan (III). Letzterer war mit einer Tochter von Ahmad Shah verheiratet. Zudem war seine Mutter eine Schwester von Ahmad Shah. Dies hinderte einerseits Ahmad Shah nicht, seinen Neffen in der Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts mit Krieg zu überziehen, so dass dieser nach Purik fliehen musste. Andererseits schloss sein Neffe nach einer vorgetäuschten Versöhnung mit Ahmad Shah eine Allianz mit dem Dogra-Feldherrn Zorawar Singh, was letztendlich Ahmad Shah den Thron von Skardu kostete und das Ende der Unabhängigkeit aller Königreiche von Baltistan zur Folge hatte. 

3.1.2.10. Die Rolle der Untertanen

Zum Verständnis des Verhältnisses zwischen Herrscher und Untertanen ist folgende Formulierung von besonderem Interesse, die der Verfasser des Shigar Nāma dem König von Shigar Imam Quli Khan zuschreibt (Behrouz, S. 169):

„ Frühere Könige haben nie Gewalt angewandt, sondern sie waren äußerst bemüht, den Menschen zu helfen. Hört euch an, was Sa´di darüber gesagt und was für einen kostbaren Rat er gegeben hat: „Die Untertanen sind die Wurzeln, und der Herrscher ist der Baum. Ein Baum steht, mein Sohn, kraft seiner Wurzeln fest.“ Der Feind ist mächtig und ihr seid ihm unterlegen, nur weil ihr Gewalt anwendet und [das Volk] unterdrückt.“

Die vorstehende, dem „weisen Herrscher“ Imam Quli Khan zugeschriebene Äußerung beleuchtet die Rolle, die die Herrschenden in Baltistan den Untertanen, die als Miliz den Hauptteil der Armee stellten, zuschrieben. Das Volk, welches bezeichnender Weise in einer Kartaksho betreffenden Urkunde aus Ladakh als dmag „waffenfähige Männer, Krieger“ bezeichnet wird, war dem Herrscher gegenüber durch Waffendienst zur Gefolgschaft und zum Schutz der Herrschaft verpflichtet. Daneben finanzierte es durch Steuerabgaben und sonstige Dienstleistungen einen Teil des königlichen Haushaltes und die öffentlichen Aufgaben. Diese Erwartung von Gefolgschaft und Schutz der Herrscher ist auch durch entsprechende Formulierungen in Shigar Nāma belegt. Dabei ist es historisch unerheblich, ob diese Äußerungen wörtlich tatsächlich so gemacht worden sind, was übrigens unwahrscheinlich ist. Sie geben aber zum Verhältnis von Untertanen und Herrscher in Baltistan das wieder, was als gesellschaftlicher Konsens über die Rolle der Untertanen vorgegeben war. So findet sich in einem Vortrag der Untertanen von Shigar gegenüber Imam Quli Khan folgendes (Behrouz, S, 169):

„O Herrscher! Wir sind bereit, uns für deinen Kopf zu opfern! … Das was der König befiehlt werden wir mit Leib und Seele tun, denn Gott hat dich zu unserem Anführer gemacht.“

Einer Versammlung von Einwohnern aus Skardu wird folgende Äußerung zugeschrieben (Behrouz, S. 183):

„Wir sind bereit, für dich unser ganzes Leben hinzugeben. Solange wir leben, stehen wir dir zu Diensten. Es ist unsere Aufgabe, jetzt den Feind zu bekämpfen…“

Interessanterweise markieren sowohl die vorstehend Imam Quli Khan zugeschriebenen Äußerungen und die damit verbundene Versicherung der Gefolgschaftstreue durch die Untertanen als auch das zitierte Versprechen der Untertanen von Skardu jeweils Krisen im Verhältnis von Herrschern und Untertanen. Dabei werden die Grenzen deutlich, die die Herrscher bei ihren Handlungen wenigstens zu einem Minimalkonsens mit der Bevölkerung zwangen. Daneben erkennt man die Freiräume, die für Vertretung von Eigeninteressen der Bevölkerung bestanden.

Im ersten der beiden obigen Fälle waren die Bürger und Truppenangehörigen von Shigar der langdauernden Kriege überdrüssig. Zudem empfanden sie ein offenkundiges Fehlverhalten von fremden Hilfstruppen und deren Führer, die in Shigar stationiert waren, als unerträglich. Sie beschwerten sich deshalb bei Ihrem König Imam Quli Khan, der danach die obige Belehrung an die Führer der verbündeten Truppen richtete und sie anschließend aufforderte (Behrouz, S. 169): „Nun lasst ab von der Tyrannei und diesem gotteslästerlichem Treiben und behütet das Volk wie eine Perlmutter. Solltet ihr das versäumen, werdet ihr am Ende keinen glücklichen Tag erleben … Aber die Untertanen wehren sich gegen die Last der wachsenden Unterdrückung und beschweren sich laut. Unterlast diese Untaten und sucht einen Ausweg!“ Die fremden Truppenführer lenkten ein, und Imam Quli Khan konnte seine „betrübten Truppen“ wieder beruhigen.

Der Hintergrund des zweiten Falls war ein Dissens innerhalb der Herrscherfamilie von Skardu. Die Untertanen mussten sich in diesem Fall entscheiden, ob sie Sher Khan, dem Bruder von Murad Khan, oder dessen Sohn Muhammad Rafi Khan Gefolgschaft leisten wollten. Dabei stand nicht die Gefolgschaft zur eigenen Herrscherdynastie, sondern die Treue zu einzelnen Mitgliedern dieser Dynastie zur Disposition. Die erste Machtübernahme durch Sher Khan war reibungslos verlaufen, und die wehrfähigen Männer von Skardu waren ihm im anschließenden Krieg gegen Imam Quli Khan gefolgt. Nachdem dieser erste Krieg von Sher Khan gegen Shigar für ihn mit einer Niederlage geendet hatte, zog sich Sher Khan nach Kartaksho zurück, wo er nach einem Besuch in Kaschmir einen zweiten Krieg gegen Imam Quli Khan vorbereitete. Zunächst schloss er ein Bündnis mit seinem Neffen Yakub und dessen Cousin Hatam Khan von Khaplu. Als Imam Quli Khan dies erfahren hatte, plante er einen Präventivschlag gegen Sher Khan und zwang die Untertanen des Königreiches Skardu unter Androhung von Strafe, sich zu versammeln. Als er dieser Versammlung seine Kriegspläne mitteilte, wurde das oben angeführte Treueversprechen der Untertanen von Skardu abgegeben. Imam Quli Khan war aber darüber informiert, dass das Volk von Skardu weiterhin zu Sher Khan stand, und er warnte Muhammad Rafi Khan, den Gelöbnissen seiner Untertanen Glauben zu schenken, wobei der Autor des Shigar Nāma ihm folgende Worte in den Mund legte (Behrouz, S. 184): „Habt kein Vertrauen zu diesem Volk, denn ein hölzernes Schwert taugt nichts. Ihr Versprechen ist durch und durch Lug und Trug.“ Muhammad Rafi Khan aber glaubte den Zusicherungen seines Volkes. Imam Quli Khan zog sich nach Shigar zurück und Sher Khan konnte anschließend sogar seinen Neffen in Skardu besuchen. Bei diesem Besuch gelang es ihm, Muhammad Rafi Khan festzunehmen und in Parkuta einzukerkern. Die Bevölkerung von Skardu unternahm dabei keinen Versuch, Muhammad Rafi Khan zu verteidigen, und folgte abermals Sher Khan in dessen zweiten Krieg gegen Shigar.

Diese Ereignisse zeigen deutlich, dass die zustimmende Haltung der Untertanen im Falle eines Konflikts innerhalb der Herrscherfamilie für die Lösung der Machtfrage entscheidend war. Dies wird auch an einem 1812 ausgebrochenen Nachfolgekonflikt in Khaplu zwischen Daulat Ali Khan und seinen Halbbrüdern deutlich, über den wir durch eine ladakhische Urkunde aus dem Jahre 1817 informiert sind. Der als Schlichter eingesetzte ladakhische Heerführer veranlasste, dass sich die Halbbrüder und die Vertreter der zwölf Clane (pā bcu-gnyis) versammelten und gegenüber dem rechtsmäßigen Nachfolger einen Treueeid ablegten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es in Kartaksho zu einer Revolte des gesamten Volkes gegen Abdul Rahim und seine Söhne aus der Anthok-Herrscherfamilie. Über den Ausgang dieser Revolte ist mit nichts bekannt.

Im Krisenfall mussten die Herrscher auch mit spontan ausbrechenden Aufständen von Teilen ihrer Gefolgschaft rechnen. Nach seiner militärischen Niederlage und seinem Rückzug nach Kartaksho unternahm Sher Khan zwei Reisen nach Kaschmir. Als er nach dem zweiten Aufenthalt in Kaschmir nach Kartaksho zurückreiste, überfielen ihn die Männer seiner eigenen Gefolgschaft und raubten ihn aus. Durch eine Unachtsamkeit seiner Gegner konnte er aber entkommen und sich nach Kartaksho retten.

Ein seltsam anmutender Fall wird aus Shigar berichtet. Im Jahre 1802 kam es zu einem Dissens zwischen Azam Khan, dem König von Shigar, und seinem Wesir Mohammad Sultan. Infolge dieses Streites vertrieb Mohammad Sultan den König, der daraufhin nach Khaplu ins Exil gehen musste. In diesem Konflikt wurde der Wesir offenbar von Ahmad Shah aus Skardu unterstützt. Der Konflikt führte 1804 zu einer Intervention von Truppen aus Ladakh. Im Ergebnis konnte Azam Khan 1806 nach Shigar zurückkehren und dort wieder die Herrschaft übernehmen.

Zusammenfassend ergibt sich aus dem Vorstehenden, dass Begriffe wie „despotic ruler“, „totalitäre Herrschaft“, „unumschränkte Autokraten“ nicht geeignet sind, die traditionellen und charismatischen Herrschaftsstrukturen Baltistans mit seiner als Miliz organisierten Bevölkerung angemessen zu beschreiben.

3.1.3. Abwehr äußerer Gefahren, Kriege und ihre Folgen

Die militärischen Potentiale der Königreiche in Baltistan standen natürlicherweise in einem proportionalen Verhältnis zu der Zahl der Bewohner dieser Länder. Nach der Volkszählung von 1911 betrug die Gesamtzahl der Einwohner der Gebiete der 69 Jahre zuvor untergegangenen Königreiche 101.191 (Hashmatullah Khan, Anhang). Davon entfielen auf die Teilgebiete: 

Rondu: 9.655 Einwohner,
Skardu: 22.039 Einwohner,
Shigar (um 1800 hiervon separiert: Baraldu): 25.006 Einwohner,
Kiris: 8.837 Einwohner,
Khaplu: 27.333 Einwohner,
Kartaksho (um 1800 hiervor separiert:Tolti und Parkuta): 8.321 Einwohner.

Daraus ergibt sich, dass die einwohnermäßig größten Länder Skardu, Shigar und Khaplu im Spiel der Mächte von Baltistan die Hauptakteure waren, während die übrigen Länder nur als Verbündete dieser drei Königreiche eine Rolle spielten. Dabei kam Kiris die Bedeutung eines Pufferstaats zwischen den Ländern des Westens und dem östlichen Khaplu zu und wechselte in den militärischen Auseinandersetzungen nicht selten die Seite. Vergleichen wir die obigen Zahlen mit den von Afridi veröffentlichten Ergebnissen der Volkszählungen von 1951 und 1961, so verzeichnen die auf 1911 folgenden fünfzig Jahre nur einen geringen Anstieg der Bevölkerungszahlen. Dies bedeutet andererseits, dass zur Zeit der Unabhängigkeit Baltistans die Zahl der Einwohner nur unwesentlich kleiner als 1911 gewesen sein dürfte.

Nach dem Staatsvertrag zwischen Ladakh und Purik aus dem Jahre 1753 schätzte der damalige König von Purik Tashi Namgyel (bKra-shis rnam-rgyal) die Zahl der Krieger, die dem König von Khaplu unterstanden, mit 5.000 ein (Schwieger, S. 40). Geht man davon aus, dass die sich aus den Zählungen von Dainelli (De Fillippi (2), S. 85) für 1913 ergebende, durchschnittliche Familiengröße von 5,4  Personen auch für die Vergangenheit in etwa auf den Rest von Baltistan übertragbar ist, so bestätigt sich bei einer Rekrutierung von einem Soldaten pro Familie die Größenordnung der vom König von Purik 1753 gemachten Angabe. Dies ergibt für die Größenordnung der militärischen Potentiale in der Periode der selbständigen Königreiche das Folgende:

Rondu: ca. 1.700 waffenfähige Männer,
Skardu: ca. 4000 waffenfähige Männer,
Shigar : ca. 4.600 waffenfähige Männer,
Kiris: ca. 1.600 waffenfähige Männer,
Khaplu: ca. 5.000 waffenfähige Männer,
Kartaksho: ca. 1.500 waffenfähige Männer.

Natürlich stand bei einem Angriffskrieg den Herrschern niemals die Gesamtzahl seiner Krieger zur Verfügung, mussten sie doch wegen der latenten Gefahr von Raubüberfällen der kriegerischen Nachbarn auf einzelne Dörfer genügend Soldaten für den Heimatschutz im eigenen Land belassen.

Die Abwehr dieser zuletzt genannten Bedrohung stellte eine der wichtigsten Aufgaben der äußeren Sicherheit dar. Bei solchen Überfällen von Seiten der Nachbarn aus dem nordöstlichen Hunza und Nagar sowie aus den südwestlichen Gebieten von Chilas und Indus-Kohistan wurde nicht nur die gesamte Habe einschließlich des Viehs geraubt, sondern auch der größte Teil der Einwohnerschaft eines Dorfes entführt, um die entführten Menschen danach als Sklaven zu verkaufen (siehe auch Müller-Stellrecht, 1981). Vigne wurde während seiner ersten Reise nach Baltistan im Jahre 1835 auf der Deosai-Hochebene Zeuge eines solchen Ereignisses (Vigne, S. 224). Eine siebzig bis achtzig Personen umfasste Gruppe bewaffneter Räuber aus Kholi-Palus hatte ein Dorf in Baltistan aus dem Herrschaftsbereich von Ahmad Shah überfallen und war nun nach diesem Überfall mit dem Vieh und Einwohnern des Dorfes, die man als Sklaven verkaufen wollte, auf dem Rückweg. Der von einer größeren Gruppe bewaffneter Krieger begleitete Ahmad Shah stellte sich der abziehenden Räuberbande in den Weg. Bis auf einige wenige, denen die Flucht gelang, wurden alle Räuber getötet, wobei man auch die verletzten Gefangenen nicht verschonte. Den Toten wurden sofort die Kleider ausgezogen, da man diese als wertvoll erachtete. Am folgenden Tag inspizierte Ahmad Shah die für ihn aufgehäuften, abgeschlagenen Köpfe der getöteten Räuber. Der Schutz gegen solche Überfälle war vermutlich auch einer der Gründe für die Errichtung von Festungsanlagen an den Grenzen der Herrschaftsgebiete, wie in Askole, Arandu und Stak.

Die kriegerischen Auseinandersetzungen der Jahre 1718 – 1723 stellten einen Versuch Shigars dar, die übrigen Länder in Baltistan zu erobern. Sehen wir außerdem von den militärischen Aktivitäten des Zeitraums um 1680 in Purik ab, hatten alle bekannten, von einem Königreich in Baltistan aus geführten Angriffskriege ihren Ursprung in Skardu. Einerseits waren diese Kriege Unternehmungen zur Erweiterung der Machtbasis und der Einnahmequellen des Königreiches Skardu, andererseits hatte sie auch den Charakter von Raubzügen, wie z. B. die Eroberung von Ladakh in den 90er Jahren des 16. Jahrhunderts durch Ali Sher Khan, der zwar von diesem Feldzug mit überaus reicher Beute nach Skardu zurückkehrte, aber offenkundig kein Interesse zeigte, mit Ladakh den Machtbereich seines Königreiches auf Dauer nach Osten auszudehnen. Die Errichtung zahlreicher, bedeutender religiöser Bauwerke und der Festung Kharpocho in der Regierungszeit von Ali Sher Khan zeigen, dass diese kriegerischen Aktivitäten für sein Königreich einen gewaltigen Mittelzufluss zur Folge hatte, der mit der Belohnung für die kriegführenden Soldaten sicherlich auch der Bevölkerung seines Landes insgesamt zu Gute kam.

Vergleichbares ereignete sich auch in den 50er Jahren des 17. Jahrhunderts unter Murad Khan. Nach dem Shigar Nāma wurden während des gemeinsam mit Shigar unternommenen Krieges gegen Khaplu die Schätze und Reichtümer der Burgen von Kharku (westlich der Mündung des Thalle-Flusses in den Shayok gelegen), Haldi (im Hushe Tal gelegen) und von Thortsi Khar, der Bergfestung von Khaplu, erbeutet (Behrouz, S. 109-112). Dabei dürfte ein Teil dieser Beute auch Shigar zu Gute gekommen sein. Vergleichbare reiche Beute erbrachten die folgenden Feldzüge von Murad Khan gegen Gilgit (Behrouz, S. 128). Das Elend, welches diese Kriegszüge über die Bevölkerung der eroberten Länder brachte, war andererseits aber gewaltig. Die monatelange Belagerung der Bergfestung von Khaplu wurde von einer konsequenten Ausplünderung der Bevölkerung dieses Landes begleitet, bei der man mit der gesamten Ernte insbesondere alle Essensvorräte der Bevölkerung konfiszierte (Behrouz, S. 111). Damit unterbrachen die Belagerer eine mögliche Versorgung der belagerten Festung und stellten die Versorgung der angreifenden Truppen sicher. Bei dem vorangegangen Feldzug von Murad Khan gegen Kartaksho erwies sich die Festung von Kharmang als Bollwerk, das mit rein militärischen Mitteln nicht eingenommen werden konnte. Die Folge war wiederum eine monatelange Belagerung, deren Umstände im Shigar Nāma wie folgt geschildert werden (Behrouz,  S. 106):

„Für jede Schlucht bestimmte Imam Quli Khan einen Anführer, und er veranlasste sie, Hab und Gut zu sammeln. Überall im Lande machten sich seine Recken auf die Suche und nahmen rasch Vorräte und Haustiere in ihren Besitz. Danach brachten die Helden alles, was sie an Gold, Schmuck, Vorrat, Last- und Hornvieh und [kostbare Pferde wie] Rahsh gesammelt hatten, vor den Thron des wunscherfüllenden Königs. Sie bauten einen Berg von Getreide auf …“

Die bis in 60er Jahre des 17. Jahrhundert geführten Kriege erbrachten für Skardu und Shigar zusätzliche finanzielle Zuflüsse, die sich mit Sicherheit auch auf den Lebensstandard der Bevölkerung auswirkten. Dies änderte sich mit dem Beginn der beiden Kriege zwischen Skardu und Shigar gegen Ende der 60er Jahre des 17. Jahrhunderts grundlegend. Die Territorien beider Länder wurden selbst zu Kriegsschauplätzen. Zudem muss die jahrelange Kriegsführung, die letztendlich für Skardu in einer Niederlage endete, die Ressourcen beider Länder weitgehend aufgebraucht haben.  Die Kriege, die im folgenden 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts von Skardu und Shigar geführt wurden, resultierten durch das militärische Eingreifen von Ladakh regelmäßig in einer Niederlage der angreifenden Partei. Die dabei erlittenen Verluste an Menschenleben und Kriegsmaterial  sowie die kriegsbedingten Zerstörungen und eventuellen Kompensationsforderungen der ladakhischen Interventionstruppen mussten einen Niedergang des ohnehin bescheidenen Wohlstands der Bevölkerung Baltistans zur Folge gehabt haben, zumal auf relativ kurze Perioden des Friedens und der Erholung regelmäßig neue Feldzüge mit ihren zerstörerischen Auswirkungen folgten.

Während die eingangs geschilderte militärische Aktion von Ahmad Shah gegen die Sklavenhändler aus Kholi-Palus die Tötung aller Räuber, derer man habhaft werden konnte, nach sich zog, wurden die Gefangenen regulärer Kriegshandlungen nach Beendigung der Kriegshandlungen in der Regel wieder freigelassen. In welchem Zustand sie danach ihre Heimat erreichten, ist schwer zu sagen. Im Falle der Freilassung von ca. 100 Gefangenen aus Ladakh durch Ahmad Shah hebt die darüber berichtende ladakhische Urkunde des Jahres 1817 extra hervor, dass die Freigelassenen sogar Kleider und Schuhe trugen. Wir können daraus nur schließen, dass im Normalfall den Gefangenen alles, was nur irgendeinen Wert hatte, weggenommen wurde. Dass dazu selbst die Kleidung gehörte, zeigt wiederum das Beispiel der Räuber von Kholi-Palus, wo man den Toten sofort die Kleidungsstücke auszog.

Bleibt noch anzumerken, dass die ausgefochtenen Schlachten für die Kämpfenden teilweise einen katastrophalen Ausgang nahmen. So kam es  im Winter des Jahres 1723 in Kiris zu einer Entscheidungsschlacht zwischen den vereinigten Truppen aus Khaplu und Ladakh einerseits und einem Heer von Soldaten aus Shigar, Skardu, Rondu und Nagar andererseits. In der ladakhischen Urkunde (Francke, S. 229), die über diese Schlacht berichtet, heißt es, dass die Feinde eine vernichtende Niederlage erlitten. Unzählige gegenerische Krieger lagen tot oder verletzt am Boden. Der Rest unternahm den Versuch, sich in die eiskalten Fluten des Shayok zu retten und kam dabei ums Leben. Erbeutet wurden alle Waffen und Pferde des Gegners.

3.1.4. Landesverwaltung, Steuern, Dienstleistungen, Lebensumstände der Bevölkerung

Über die Strukturen der staatlichen Organisation der Königreiche von Baltistan liegen uns nur wenige zitierfähige Informationen vor, die fast ausschließlich von Thomas Godfrey Vigne stammen und sich auf Skardu beziehen. Von Vigne wissen wir, dass der Herrscher von Skardu Ahmad Shah Persisch lesen und schreiben konnte (Vigne, S.  235). Vermutlich traf dies auch für Ali Sher Khan (III), den Herrscher von Kartaksho zu, der ein Zeitgenosse von Ahmad Shah war. Von Ali Sher Khan (III) ist eine auf Persisch geschriebene  Autobiographie überliefert, die Hashmatullah Khan vorgelegen hat. Obwohl diese Autobiographie in der 1. Person abgefasst ist, kann man aber nicht ausschließen, dass Ali Sher Khan (III) zur Niederschrift sich eines schriftgelehrten Sekretärs, Munshi genannt, bediente. Das Persische war die in den Königreichen von Baltistan verwendete Schriftsprache. Natürlich bediente sich auch Ahmad Shah eines oder mehrerer Munshi zur Führung seines Schriftverkehrs. Bekannt geworden sind Ahmad Shahs Briefwechsel mit William Moorcroft,  dem in Ludiana stationierten Captain Claude Martine Wade und  dem Franzosen Victor Jacquemont. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass in jedem Königreich von Baltistan eine gewisse Anzahl Schriftkundiger vorhanden war (siehe auch De Filippi (2), S. 85), zu denen auch die Geistlichen gehörten. Zur Beglaubigung von Schriftstücken bediente sich Ahmad Shah eines Siegels.

Zur Überbringung von Sendschreiben standen den Herrschern von Baltistan spezielle Boten zur Verfügung, die Wakil (Vakil) genannt wurden. Von Ahmad Shah sind uns die Namen von zwei dieser Boten bekannt, nämlich Názim Khan und Charágh Ali Sháh. Beide stammten übrigens nicht aus Baltistan.

Nach Vigne (S. 234) wurde die Armee von Ahmad Shah üblicherweise von einem der Söhne des Herrschers kommandiert, dem (?) wiederum zwei Wesire (Vuzir, Wazir) unterstanden. Vigne schreibt nichts über weitere Details der Organisation der Armee. Im Shigar Nāma taucht an vielen Stellen jeweils eine kleine Zahl von Namen sogenannter „Helden“ auf, die offenbar als Truppenführer agierten. Nach Emerson (S. 423 und 425), der seine Informationen 140 Jahre (!) nach dem Untergang der Königreiche von Baltistan von mündlichen Informanten sammelte, existierte in Khaplu eine gesonderte Kriegerkaste (warrior class), Kha-Cho genannt, die als eine Art von stehender Armee auch die Generäle und Offiziere stellte und die sich neben militärischer Übungen mit dem Polo-Spiel beschäftigte. Solange unklar ist, inwieweit bei Emersons Informanten nicht Vorstellungen aus Märchen und Sagen, von Emerson als „rapidly decaying oral tradition“ bezeichnet, die Grundlage dieser - übrigens für mich völlig unwahrscheinlichen - Darstellungen bilden, sind seine Feststellungen historisch nicht benutzbar.

Bezüglich der Rekrutierung von Soldaten aus der Einwohnerschaft Baltistans findet sich bei Vigne folgender wichtiger Hinweis (S. 263): „I have designated the inhabitants as peasants, but almost all the owners of these lands and tenements are Sepahis [Krieger], who are bound by their tenure to perform all the duties of knight service, frank tenement and copyhold united, and cannot in fact refuse to assist in any public work they may be called upon to perform.” Interessant sind Vignes Äußerungen zu der Behandlung der Familien, insbesondere der Witwen, gefallener Soldaten. Diese Frauen konnten auf dem Land ihrer durch Kampfhandlungen zu Tode gekommenen Ehemänner wegen der Kinder verbleiben (Vigne, S. 258).  An anderer Stelle (S. 263) erklärt Vigne, dass im Falle des Todes eines waffenfähigen Ehemannes die Hälfte des Landbesitzes bei der Frau verblieb, während die andere Hälfte an den Herrscher zurückgegeben wurde. Allerdings galt dies nur für den Fall, dass die Ehe kinderlos war. Möglicherweise bezieht sich diese zweite Äußerung darauf, dass der Ehemann eines natürlichen Todes starb. Die Rückgabe von Landbesitz an den Herrscher nach dem Tod eines Mannes kann übrigens auch nur so verstanden werden, dass dieses Land wieder zur Neuzuteilung an eine zum Militärdienst fähige Familie zur Verfügung stand.

Aus beiden Darstellungen Vignes wird aber deutlich, dass gewöhnlicher Landbesitz unmittelbar mit der Fähigkeit der Familien verbunden war, am Kriegsdienst teilnehmen zu können. Dies bedeutet, dass die Gesellschaft Baltistans in ihrer Grundstruktur militärisch organisiert war. Von daher sind auch soziologische Theorien, wie die von Emerson, die besagen, dass die Führungsstellung der Herrscher von Baltistan auf der Erwartungshaltung basierte, die Herrscher würden mit ihrer wie auch immer gearteten Militärmacht die Sicherheit ihrer mit der Feldarbeit und der Tierhaltung beschäftigten Untertanen garantieren, als abwegig zu bezeichnen.

Über eine Aufteilung der Armee nach Waffengattungen findet sich nur ein Hinweis im Shigar Nāma (Behrouz, S. 165). Danach rückte eine Truppe von 1.000 Infanteristen mit 40 Reitern und 40 Musketieren gegen die Feinde Imam Quli Khans vor. Der überwiegende Hauptteil der Armeen in jener Zeit bestand also aus Fußsoldaten, die mit Schwertern bewaffnet waren. Dies bezieht sich auf Ereignisse im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts. Die Zahl der mit Vorderladern ausgerüsteten Soldaten dürfte angesichts der Zahl von 3.000 Gewehren, welche den Dogra 1840 in der Festung Kharphocho in Skardu in die Hände fiel (Autobiographie von Ali Sher Khan, in Hashmatullah Khan, S. 89), bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts erheblich angestiegen sein.

Zusätzlich zum Militärdienst hatten die Bauernfamilien Baltistans neben weiteren, sogenannten öffentlichen Dienstleistungen, auch Abgaben in Form von Naturalien an den Staat zu leisten. Unklar ist die Bemessungsgrundlage dieser Abgaben. Nach Vigne (S. 258) war diese eine bestimmte Größe an Ackerland, die als yul bezeichnet wurde. Für dieses Gebiet waren nach Vigne jährlich 2 Kirwahs Weizen, eine bestimmte Menge Fett (roghun) und eine Ziege abzuliefern. Nach Vigne (Appendix I) entsprach 1 Kirwah 144 lb, womit bei einer Relation von 1 lb = 0,453 kg von den Bauern pro yul ca. 130 kg Getreide abzuliefern waren. Diese Zahlen stimmen in etwa mit dem überein, was Captain Wade (S. 599) im Jahre 1829 nach den Angaben des Wakils Charágh Ali Sháh notierte: „The revenue of the state is collected in kind in the following form: - on kharwár of wheat, one of barley and one of mustard or millet are levied from each landholder. Some of the zemindars pay their rents in one kharwár of ghí each, instead of the other three articles. One kharwár is about fourty seers in weight.” Gehen wir dabei von der Relation 1 seer = 0,933 kg aus, so hatten die Bauern von  Skardu pro yul etwa 112 kg Getreide abzuliefern. Da wir weder Genaues über die Größe eines yul wissen und uns auch unbekannt ist, wie viele yul  im Besitz einer Familie waren, sagen diese Zahlen zunächst wenig darüber aus, ob die Bauern mit ihren Familien von dem ihnen zur Verfügung stehenden Ackerland  auskömmlich leben konnten. Nach einer Angabe im Shigar Nāma (Behrouz, S. 169) mussten die Bauern in Shigar ein Fünftel, also 20 %,  ihrer Getreideernte jeweils abliefern. Hiernach war in Shigar der Ertrag der Ernte die Bemessungsgrundlage für die Abgaben an den Staat. Sollten die Größenordnungen der Abgaben in Shigar und Skardu vergleichbar gewesen sein, bedeutet dies, dass einer Familie mit einer durchschnittlichen Größe von 5,4 Personen nach Steuern zwischen 448 und 520 kg Getreide pro yul zur Verfügung standen. Geht man davon aus, dass früher wie heute der Anteil des Familieneinkommens aus dem Feldanbau ca. 35 % betrug und der Rest aus dem Obstanbau, der Viehhaltung und der Forstwirtschaft stammte, so dürfte nach meiner Einschätzung selbst für den Fall, dass jeder Familie nur 1 yul Land zur Verfügung stand, das durchschnittliche Einkommen aus der Landwirtschaft für einen bescheidenen Lebensstandard durchaus ausgereicht haben. Des Weiteren muß die Bindung von Landbesitz und Landzuteilung an die Teilnahme am Militärdienst dazu geführt haben, dass die Größen der zur Nutzung zugesprochen Anbauflächen zumindestens im Bereich der Hauptmasse der Familien mit wehrfähigen Familienoberhäuptern weitgehenst ausgeglichen war. Ob sich dabei Unterschiede im Verhältnis zur Stellung in der Militärhierarchie ergeben haben, ist nicht bekannt.  

Vigne erwähnt noch eine weitere Kategorie von Landbesitz, Ghund (Gand) genannt, für das die Nutzer keine Abgaben zu entrichten hatten. Die weiteren Erläuterungen hierzu von Hashmatullah Khan wie auch dessen Darlegungen zu einer von ihm als Tarkchos yol bezeichneten Kategorie von Landbesitz, die angeblich den Bediensteten des Staates steuerfrei zugesprochen war, halte ich nicht für zitierfähig.

Über die Rolle der von Vigne erwähnten beiden Wesire, die nach seinen Erläuterungen dem Prinzen unterstanden, der die Armee befehligte, ist wenig bekannt. Im Shigar Nāma treten Wesire an verschiedenen Stellen als weise Ratgeber der Könige auf. Funktionsträger mit diesem Titel sind für die Herrschaftsgebiete Skardu, Shigar, Kartaksho und Khaplu belegt. Die Machtstellung der Wesire, deren Position direkt unter der des Herrschers angesiedelt war, war offenbar sehr groß. Wie oben schon erläutert, konnte der Wesir Mohammad Sultan von Shigar im Jahre 1802 sogar seinen König Azam Khan aus dem Land vertreiben. Azam Khan musste nach Khaplu ins Exil gehen und konnte erst nach vier Jahren 1806 nach Shigar zurückkehren. Ali Sher Khan (III) von Kartaksho schickte im Jahre 1842 2.000 Soldaten von Skardu aus nach Gilgit, um kaschmirische Truppen bei der Eroberung von Gilgit zu unterstützen. Diese Soldaten wurden von seinem Wesir Ghulam Hussain geführt, was belegt, dass die Wesire auch bei militärischen Unternehmungen als Armeeführer fungierten (Autobiographie von Ali Sher Khan, in Hashmatullah Khan, S. 93). Nach Vigne unterstand den Wesiren ein Amtsträger (officer), der den Titel Trangpah führte. Offenkundig war er in Skardu für die Steuereinnahmen verantwortlich, denn ihm unterstanden mehrere Funktionsträger, die jeweils für die Erhebung des Steueraufkommens von 100 yul Anbaugebiet zuständig waren. Aus Khaplu ist uns durch eine tibetische Urkunde eine Vertretung der Bevölkerung durch die sogenannten zwölf (zwölf Familien) bekannt, deren Anführer (gra-la) offenbar den Volkswillen repräsentierten (Schuh, S. 44 und S. 429). Eine vergleichbare Vertretung des Volkes gab es vermutlich auch in Skardu (Afridi, S. 61). Weitere Details der inneren Organisation der verschiedenen Königreiche in Baltistan werden sich uns erst dann zugänglich werden, wenn alte Rechtsurkunden aus der Zeit der Könige von Baltistan gesammelt und erschlossen worden sind. Hier steht der Forschung über Baltistan noch ein großes Aufgabengebiet offen.

Die gewöhnlichen Einwohner Baltistans wohnten in kleinen Dörfern, deren Häuser zumeist eng aneinander gebaut waren. Eine detaillierte Beschreibung der Bauweise der Bauernhäuser von Baltistan findet sich bei De Filippi (De Filippi (1), S. 86): „Therefore the Balti house has two storeys, one for the cold season and one for the warm. The first is on the ground floor: a square masonry, windowless, with one door opening to the stable, from which you pass into the sheep-fold and thence into the living quarters of the family. A hole, not too large, in the roof, serves as a passage for some of the smoke but admits little air or light. … The first storey is the summer apartment; its walls are generally made of loose woven branches, and the air circulates freely around and in and out of the little rooms.” Tatsächlich wohnten die Familien im Winter auf engstem Raum zusammengepfercht in einem dunklen, fensterlosen Raum im Erdgeschoss. Anschauliche Beispiele für diese heute seltener gewordenen, in traditioneller Bauweise errichteten Häuser finden sich in dem noch gut erhaltenen, alten Ortskern von Kuru, wo die Häuser so eng zusammengebaut sind, dass man die Hauseingänge mit ihren fensterlosen Winterwohnetagen nur über „unterirdische Gänge“ erreichen kann.

Abbildung 80: Traditionelles Bauernhaus in Nar (Oktober 2007)

Abbildung 81: Altes Bauernhaus in Nar (Oktober 2008)

Über die medizinische Versorgung in der Zeit der Königreiche von Baltistan wissen wir sehr wenig. Vigne (S. 257f)  berichtet von einem Pesthaus, das zur Isolierung von Kranken diente, bei denen man den Verdacht hegte, sie seien an Pocken oder ähnlichem erkrankt. Die Begegnung von Vigne mit einem Arzt in Khaplu (Vigne, S. 318) belegt, dass die tibetische Medizin in Baltistan praktiziert wurde. Krankheiten wurden auch mit allerlei Hausmitteln behandelt. So berichtet Vigne (S. 295) davon, dass seine Begleiter Augenentzündungen dadurch behandelten, dass sie sich vorgekaute, getrocknete Aprikosen auf die Augen legten. Natürlich glaubte man auch, dass man durch diverse Zaubermethoden Krankheiten behandeln konnte. Ein von Behrouz (S. 38ff) beschriebener, in persischer Sprache verfasster Text, der offenbar von Adolph Schlagintweit in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Shigar erworben wurde, enthält die Darstellung von „Zauberformeln, Talismane, Amulette und Zaubergehänge“ sowie die Erläuterung von Methoden, wie man „zum Beispiel durch Koranverse, überlieferte Hadite, Zaubersprüche und Amulette Krankheiten heilen kann.“ Angesichts dieser Praktiken kann man davon ausgehen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Baltistan, vergleichbar übrigens mit der Lebenserwartung im übrigen tibetischen Großraum vor 1950, kaum mehr als 38 Jahre betragen haben kann.

 3.1.5. Kulturelle Leistungen

Siehe auch die Sonderartikel  Wohnburgen (Khar) und Bergfestungen (Khardong) in Baltistan (Klein-Tibet), Islamische Khanqa-Gebetshallen in Baltistan (Klein-Tibet), Traditionelle Moscheen (Masjid) in Baltistan (Klein-Tibet)Matam Serai-Gedenkhallen und Astana-Grabmonumente in Baltistan (Klein-Tibet)

Heute präsentiert sich Baltistan dem Besucher mit zahlreichen, international bedeutsamen Baudenkmälern, die zum großen Teil in der Blütezeit der Königreiche von Baltistan entstanden sind. Dabei ist anzumerken, dass ein wichtiger Teil dieser Bauwerke durch den Aga Khan Cultural Service Pakistan in den letzten beiden Jahrzehnten vorzüglich restauriert und damit vor dem Untergang gerettet wurde. Von den alten Bergfestungen ist wohl nur die von Kartaksho erhalten geblieben, die aber heute in einem militärischen Sperrgebiet liegt und somit für gewöhnliche Reisende nicht zugänglich ist. Von den teilweise sehr repräsentativen Wohnburgen der Herrscher von Baltistan sind die auf einem Felsen errichtete Burg Fong Khar von Shigar und die kleine Burg von Kiris zu erwähnen, die von der Zerstörung durch die Dogra verschont blieben. Die Frage, ob die schlossartige Wohnburg von Khaplu, die zurzeit ebenfalls vom Aga Khan Cultural Service Pakistan restauriert wird, gemäß meiner Einschätzung vor 1842 errichtet wurde oder ob sie später gebaut worden ist, ist noch nicht endgültig beantwortet. Jedenfalls ist es auszuschließen, dass die Könige von Khaplu mit ihrem Hofstaat und insbesondere ihren Pferden ausschließlich in der unzugänglichen Festung Thortsi Khar residiert haben.

Abbildung 82: Die Wohnburg Fong Khar von Shigar (Oktober 2007)

   

Abbildung 83: Eingangsseite der Wohnburg der Herrscher von Shigar (Oktober 2007)

 

Abbildung 84: Teilansicht der schloßartigen Wohnburg der Herrscher von Khaplu (Oktober 2008)

Baltistan zeichnet sich durch zahlreiche herausragende, landestypische religiöse Bauwerke aus, von denen die wichtigsten zwischen 1600 und 1710 erbaut wurden. Sie stammen vermutlich alle aus der Zeit der Herrschaft der Könige von Baltistan. Besonders beeindruckend sind die großen, Khanqa genannten Gebetshallen von Kiris (vermutlich erbaut 1706),  Khaplu (vermutlich erbaut 1712) und Shigar (1. Hälfte des 17. Jahrhunderts). Sehenswürdigkeiten sind heute die erhaltenen bzw. rekonstruierten Astana-Grabdenkmäler von Personen, die als Heilige des Islam verehrt wurden. Neben den Mamtam Serai-Gedenkhallen sind letztendlich noch die – im Vergleich zu den Khanqa-Gebetshallen – kleineren Moscheen (Masjid) zu erwähnen, die häufig durch exquisite Schnitzarbeiten auch heute noch Bewunderung hervorrufen.

Abbildung 85: Die große, 1706 erbaute Khanqa-Gebetshalle von Shigar (Oktober 2007)

   

Abbildung 86: Ost- und Nordseite der Khilingrong-Moschee von Shigar (Oktober 2008) 

 

Abbildung 87: Südseite der Khilingrong-Moschee von Shigar (Oktober 2008)

Abbildung 88: Detailansicht der Khilingrong-Moschee von Shigar (Oktober 2007)

Abbildung 89: Astana-Grabmonument des Heiligen Sayyed Mir Yahya in Shigar (Oktober 2007)

Abbildung 89a: Die große Matam Serai-Gedenkhalle von Stak (Mai 2012)

3.2. Die Zeit der Dogra-Herrschaft (1842-1947)

Mit der zweiten Eroberung von Skardu durch die Dogra unter der militärischen Führung von Wesir Lakhpat Rai endete die Selbstständigkeit der Königreiche von Baltistan. Die Dogra errichteten eine Garnison in Skardu, die in einer neu erbauten Festung stationiert wurde. Der erste Kommandant und Administrator (Thanadar) war Baghwan Singh, der 1841 während des Aufstandes in Baltistan gegen die Dogra-Herrschaft in Gefangenschaft geriet. Auf ihn folgte 1842 Gosaun (Gosaon). In der Anfangszeit der Dogra-Herrschaft über Baltistan und Ladakh war deren Machtbereich noch keineswegs konsolidiert. Kaschmir wurde von dem Gouverneur Sheik Ghulam Mohi-ud-Din verwaltet (Mohammad-ud-Din Fouq, S. 573-579), der noch direkt dem Hof des Mahārāja des Punjab in Lahore unterstand. Nachdem Ghulam Mohi-ud-Din die Dogras bei der Rückeroberung von Ladakh unterstützt hatte, forderte er von ihnen militärische Unterstützung bei der Eroberung von Gilgit an. Diese wiederum beauftragten nun Ali Sher Khan (III) von Kartaksho, die erforderliche Truppenhilfe mit Soldaten aus Baltistan zu organisieren. Die ehemaligen Könige von Baltistan mit ihren Kriegern wurden also von den Dogra noch benötigt, was hinreichend erklärt, warum man die alten Herrscherfamilien zur internen Verwaltung ihrer ehemaligen Herrschaftsgebiete in ihrer Stellung beließ. Offenkundig beseitigte man aber Teile ihrer militärischen Infrastruktur, was insbesondere die Zerstörung der Festungen Kharphocho in Skardu, Khar e Dong in Shigar und Thortsi Khar in Khaplu zur Folge hatte.

Noch im Jahr 1842 schickte Ali Sher Khan (III) von Skardu aus seinen Wesir Ghulam Hussain mit 2.000 Kriegern aus Baltistan nach Gilgit, um dort die Truppen des Gouverneurs von Kaschmir zu verstärken (Autobiographie in Hashmatullah Khan, S. 93). Noch dringender wurde die Hilfe der ehemaligen Herrscher von Baltistan 1846 von den Dogra bei den Kämpfen um die Vormachtstellung in Kaschmir benötigt. Nachdem der Dogra-Herrscher Gulab Singh mit dem Vertrag von Amritsar am 16. März 1846 von den Briten die Herrschaft über Kaschmir käuflich erworben hatte, war der von der Regierung des Punjab aus Lahore eingesetzte Gouverneur von Kaschmir Sheik Imam-ud-Din keineswegs bereit, die Herrschaft über Kaschmir an Gulab Singh zu übergeben. Gulab Singh forderte deshalb von Ali Sher Khan (III) Truppenhilfe aus Baltistan an. Dieser machte sich mit weiteren Vertretern der Herrscherhäuser von Baltistan und deren Truppen auf den Weg nach Kaschmir, wo die Baltis unmittelbar in die Kämpfe um die Übernahme von Kaschmir verwickelt wurden (Autobiographie in Hashmatullah Khan, S. 94f). Übrigens kam bei diesen Kämpfen Wesir Lakhpat Rai, der Baltistan 1842 ein zweites Mal für die Dogra erobert hatte, ums Leben.

Mit der Übernahme der Macht in Kaschmir im Jahre 1846 wurde der Dogra-Herrschaftsbereich von Jammu und Kaschmir konsolidiert und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis den nun nicht mehr benötigten Herrschern von Baltistan die innere Verwaltung ihrer ehemaligen Königreiche weggenommen wurde. Dies geschah unter dem Thanadar Kedaro (1851-1863), der nunmehr die Abgaben über eine eigene Steuerverwaltung erheben lies (Hashmatullah Khan, S. 139; Schmidt, S. 110). Nach Schmidt war der Hintergrund dieser Änderung der Aufbau einer neuen Verwaltungsstruktur in Jammu und Kaschmir nach dem Tod von Gulab Singh im Jahre 1857.

Für die einfache Bevölkerung von Baltistan hatte die Übernahme der Herrschaft durch die Dogra von Anfang an geradezu katastrophale Folgen. Dies ergibt ein Blick auf die Darlegungen von Hashmatullah Khan auf die erste Neuordnung des Steuersystems unter den Dogra. Hiernach verlangte der erste Administrator Baghwan Singh 1840/41 für die Versorgung der in Skardu stationierten Dogra-Truppen pro yul die Ablieferung von einem Khal Getreide, einem Bre Butter sowie einer Ladung Holz und Salz nach Bedarf (Hashmatullah Khan, S. 137). Dabei ist das hier genannte Getreidemaß Khal ein Hohlmaß, welches nach Schmidt (S. 140, ohne Quellenangabe) ca. 18,66 kg Getreide fasste. Unabhängig davon, ob diese Gewichtsangabe genau stimmt, konnten die alten Herrscher diesen Betrag von der traditionellen Abgabenmenge abzweigen und an die Dogra abführen, ohne das es zu einer Mehrbelastung der Bauern kommen musste. Dabei unterstelle ich, dass die alten Herrscher nicht einfach die pro yul von den Untertanen zu leistenden Abgaben um die neue Steuer der Dogra erhöht haben, es also hinnahmen, dass sich ihre eigenen Einnahmen aus der Steuererhebung verringerten.

   

Abbildung 90: Baltis unter der Dogra-Herrschaft im Jahre 1891: Träger auf der Route nach Gilgit. Quelle: Knight, S. 283

 

Abbildung 91: Baltis unter der Dogra-Herrschaft im Jahre 1891: Flussüberquerung mit einem Zak bei Khaplu. Quelle: Knight, S. 255

Nun erwähnt Hashmatullah Khan aber eine weitere Steuer von 3 Rupien pro yul, die von den Bauern zusätzlich für die Dogra abzuliefern war. Diese Zusatzsteuer erhöhte der Thanadar Kedaro auf 4 Rupien. Dabei entsprach nach Hashmatullah Khan (S. 138) der Sachwert von einer Rupie einer Getreidemenge von 3 khal und 10 bre. Die von den Dogra erhobene Zusatzsteuer von drei Rupien entsprach somit, wenn wir die Relation von 18,66 kg = 1 Khal zugrunde legen, zunächst im Jahre 1841/42 ca. 196 kg Getreide und erhöhte sich nach 1857 unter Kedaru auf ca. 261 kg Getreide. Geht man davon aus, dass die Ernteerträge pro yul, wie oben geschätzt, zwischen 448 und 520 kg Getreide lagen, so ergab sich für die Bauern eine Abgabenlast von ca. 60 %, die unter Kedaru noch auf ca. 70 % erhöht wurde. Im Ergebnis war die unmittelbare Folge der Dogra-Herrschaft eine völlige Verelendung der einfachen Bevölkerung Baltistans. Die Bauern Baltistan waren angesichts  der neuen Abgabenlast nicht mehr in der Lage, mit den Erträgen aus der Landwirtschaft ihre Familien zu ernähren. Diese Situation wurde noch verschlimmert durch die Zwangsarbeit in Form von Trägerdiensten, Begar genannt, zu denen Familienmitglieder herangezogen wurden.

Die nahezu beispiellose Armut der Bevölkerung von Baltistan unter der Herrschaft der Dogra ist sowohl von Knight (S.  67ff) als auch von De Filippi ((2), S. 79) beschrieben worden. Der damit verbundene wirtschaftliche Niedergang hatte auch fatale Auswirkungen auf die Pflege und den Erhalt der in der Königzeit geschaffenen Baudenkmäler, wobei der Zerfall der Moscheen, Astanas und der Burgen sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fortsetzte. Dies betraf auch die Herrschaftssitze der ehemaligen Königsfamilien. So zerfiel die Wohnburg von Shigar so sehr, dass sie letztendlich von ihren Eigentümern als unbewohnbar aufgegeben wurde.

   

Abbildung 92: Zerfallene Moschee in Shigar (1913). Quelle: De Filippi (2), S. 75

 

Abbildung 93: Die zerfallene Khilingrong-Moschee in Shigar. Quelle: Sagaster, S. 19


Die Änderung der Machtverhältnisse in Baltistan wirkte sich auch auf die Einnahmen der ehemaligen Königshäuser dieses Landes aus, wobei dies aber in keiner Weise zu einem bemerkenswerten Rückgang im persönlichen Lebensstandard dieser Herrscherfamilien führte. Wie schon angemerkt, wurde den Herrschern von Baltistan in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts das Recht auf die Steuerverwaltung ihrer ehemaligen Länder entzogen. Eine Ausnahme bildete Kartaksho bzw. Kharmang, dessen Herrscher Ali Sher Khan (III) maßgeblich zum Erfolg der Eroberung Baltistans durch die Dogra beigetragen hatte. Hashmatullah Khan berichtet, dass noch zu seiner Amtszeit als Wazir-i-Wazarat (um 1913) für Kartaksho das von Mahārāja Gulab Singh gewährte Sonderprivileg des lokalen Herrschers bestand, die ihm als sogenanntes Jagir unterstellten Gebiete selbst zu verwalten. Dies bedeutete allerdings keine Freistellung von den Abgaben, die an die Dogra abzuliefern waren. Die Hoffnung, dass man durch die Schnittstelle des Übergangs zur Verwaltung durch die Dogra detaillierte Einblicke in die älteren Verfügungsrechte über die Anbauflächen Baltistans gewinnen könnte, hat sich bisher nicht erfüllt. Aus der Tatsache, dass die heutigen Familien der ehemaligen Rājas von Baltistan nachweislich schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts – wie heute übrigens auch - über sehr große Ackerflächen verfügten, lässt sich aber schließen, dass es vor 1840 neben den Anbauflächen, die für die in der Miliz oder für die in der Verwaltung dienenden Untertanen vorgehalten wurden, größere Ackerflächen gegeben haben muss, die den Herrschern direkt zugeordnet waren. Unglücklicherweise verwendet die bisherige Diskussion der Landnutzungsverhältnisse in den ehemaligen Königreichen von Baltistan Begriffe wie Eigentum und Besitz, deren Gebrauch hier wie auch für das übrige tibetische Hochland wenig zielführend ist.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden mit einem sogenannten settlement die Landnutzungsverhältnisse in Baltistan fixiert und die Steuerfestlegung neu reguliert. Es entstanden Katasteraufzeichnungen, mit denen offenkundig nunmehr „Besitz“verhältnisse und die Bodenqualitäten der auf Landkarten verzeichneten Acker- bzw. Anbauflächen der verschiedenen Dörfer Baltistans festgehalten wurden. Die Details dieser sogenannten settlements sind von Matthias Schmidt ausführlich beschrieben worden (S. 111-122).  Eines der Ziele war eine auch an der Bodenbewertung orientierte gerechtere Steuerfestsetzung, wobei die Grundlage der Steuerbemessung der durchschnittlich zu erwartende Ertrag war. Schmidt hat diese Steuerfestsetzung wie folgt beschrieben (S. 118): „Besteuert wurde lediglich das Land, nicht jedoch die Wohnhäuser. Hierbei richtete sich die Steuermenge eines Haushaltes nach der Größe und der Bodengüte des jeweiligen Landbesitzes sowie nach der Kategorie der maunza (Dorfgemeinde), in der sich das Land befand. … Unter Beachtung des anzunehmenden Eigenkonsums wurde im Rahmen des zweiten settlement im Skardu Tehsil für alle Dorfkategorien ein Steuersatz von 27 % vom potentiellen Sozialprodukt festgelegt.“ Unabhängig davon, dass ein solches Steuersystem in Jahren schlechter Ernten die Steuerpflichtigen in große Bedrängnis bringen musste, bleibt aber festzustellen, dass ein Besteuerungssatz von 27 % gegenüber den früheren Steuerforderungen der Dogra-Administration eine Erleichterung  für die Steuerpflichtigen mit sich brachte.

   

Abbildung 94: Alte Katasterkarte aus dem Shigar-Tal. Quelle: Matthias Schmidt, S. 309

 

Abbildung 95: Rekonstruktion einer alten Katasterkarte von Matthias Schmidt, S. 133

An modernen Maßstäben zu messende, substanzielle Fortentwicklungen Baltistans, etwa im Bereich der Wirtschaft, des Schulwesens und der medizinischen Versorgung, fanden unter der Dogra-Herrrschaft nicht statt. Vergleicht man Baltistan z. B. mit Nepal, Bhutan und dem restlichen tibetischen Hochland dieser Zeitperiode, so waren solche Fortschritte auch nicht zu erwarten. Nach Afridi (S. 308) gab es in der Zeit der Zugehörigkeit zu Jammu und Kaschmir in ganz Baltistan nur ein Krankenhaus mit zehn Betten in Skardu und jeweils eine ambulante medizinische Versorgungsstation in Shigar und Khaplu. Die erste Grundschule Baltistans wurde 1898 in Skardu eröffnet (Schmidt, S. 238). Wenig später folgte die Gründung einer solchen Schule in Shigar. 1948 gab es im gesamten Shigar-Tal nur vier Grundschulen  (Schmidt, S. 238). Reisende, die Baltistan gegen Ende der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besuchten, berichten von der Existenz eines Postamtes in Skardu. Auch bestand von Skardu aus eine telegraphische Verbindung nach Kaschmir (Afridi, S. 306). Die Zahl der Postämter in Baltistan erhöhte sich nach Afridi in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf neun.

3.3. Moderne Entwicklungsprobleme

Die gewaltigen Veränderungen, die Baltistan nach dem Ende der Dogra-Herrschaft in den letzten sechzig Jahren erfahren hat, sind insbesondere in den Orten Skardu, Khaplu und Shigar sowie an der Erschließung durch Straßen und Brücken ablesbar. Dennoch ist dieses Land, wenn man sich an den Erfordernissen einer modernen Entwicklung orientiert, heute immer noch als sehr rückständig einzustufen. Selbst im Vergleich zu den durchschnittlichen Verhältnissen im übrigen Pakistan, welches sich sicherlich nicht durch besonderen Wohlstand auszeichnet, ist Baltistan als weniger entwickelte Region einzustufen. Dies lässt sich schon an der Zahl der Menschen ablesen, die unter der für Pakistan definierten Armutsgrenze leben. Während in 2004/2005 in ganz Pakistan 24 % der Bevölkerung dieser Gruppe zugerechnet wurde, betrug der entsprechende Anteil in Gilgit-Baltistan 29 %. Dabei waren die regionalen Unterschiede auch innerhalb von Gilgit-Baltistan sehr groß. So lebten 2004/2005 in dem östlichen Gangche Distrikt von Baltistan 33 % unter der Armutsgrenze (Report No. 55998-PK, 2.11). 21 % der Kinder in Gilgit-Baltistan wurden im Jahr 2002 als unterernährt eingestuft (Report No. 55998-PK, Table 2.1).

1981 konnten nur 14,7 % der Bevölkerung  von Gilgit-Baltistan mit einem Alter von mehr als 10 Jahren lesen und schreiben. Bezogen auf die weibliche Bevölkerung betrug dieser Anteil damals sogar nur 3 %. Bis 1998 stieg dieser Anteil an der Gesamtbevölkerung mit einem Alter von mehr als 10 Jahren in Gilgit-Baltistan auf 37,8 % (in Baltistan: 33,89 %), um 2004/2005 50 % zu erreichen. Im Hinblick auf die weibliche Bevölkerung betrug dieser Anteil 2004/2005 aber nur 36 % (Report No. 55998-PK, 5.39). Nur 51 % aller Mädchen und Jungen im Alter zwischen 5 und 9 Jahren gingen 2004/2005 zur Schule. Allerdings besuchten nur 42 % der Mädchen dieser Altersklasse eine Grundschule. Der Prozentsatz der Mädchen und Jungen, die nach Überschreiten dieser Altersklasse noch eine weiterführende Schule besuchten, war allerdings 2004/05 drastisch kleiner. Ein besonderes Problem stellt der Schulbesuch weiterführender Schulen durch Mädchen dar. Des Weiteren ist anzumerken, dass der Schulbesuch von Kindern aus ärmeren Bevölkerungsschichten um 15 - 25 % geringer ist als bei Kindern wohlhabender Eltern. Extreme Abweichungen von den obigen Durchschnittszahlen ergeben sich für abgelegene ländliche Gebiete in Baltistan. So betrug der Anteil der Kinder, die in Basha die Schule besuchten, nur 5,91 % (Hagler Bailly, Band 2, 3.5.2).

Ebenfalls erschreckend sind die Zahlen, die uns über das moderne Gesundheitswesen von Baltistan vorliegen. 1998/99 betrug die Müttersterblichkeit (bezogen auf 100.000 Geburten) in Gilgit-Baltistan 600 (Deutschland: 12). Für den gleichen Zeitraum wird die Säuglingssterblichkeit  (bezogen auf 1000 Geburten) mit 40 (Deutschland: 4,4) beziffert. Von 1000 Kindern starben 122 im ersten Lebensjahr. Nur zwei Krankenhausbetten standen im Gangche-Distrikt von Baltistan für jeweils 10.000 Personen zur Verfügung (Deutschland: 57). Im Skardu-Distrikt betrug die Zahl der Betten immerhin 14. Auf 10.000 Einwohner kommen in ganz Gilgit-Baltistan zwei Ärzte (Report No. 55998-PK, 5.89-5.93). Erhebliche Defizite zeigen sich auch in den Bereichen der Versorgung mit Wasser und Elektrizität. 38 % der Haushalte in Gilgit-Baltistan hatten im Zeitraum 2004/2005 keinen Zugang zu einer Trinkwasserleitung, mit der Folge, dass diese das Trinkwasser aus Seen und Bächen beziehen mussten. In 18 % der Haushalte befand sich keine Toilette. 28 % der Haushalte von Gilgit-Baltistan haben keinen Elektrizitätsanschluss. In Baltistan dürfte dieser Prozentsatz der nicht ans Stromnetz angeschlossenen Haushalte erheblich größer sein (Report No. 55998-PK, 6.1-6.3).

Große Hoffnungen wurden und werden in Baltistan in die Entwicklung des Tourismus als wichtigen Wirtschaftsfaktor gesetzt. Ein Schwerpunkt liegt hierbei angesichts der zahlreichen Achttausender in Gilgit-Baltistan auf dem Bergsteigertourismus. Mit durchaus hochwertigen Unterkunftsmöglichkeiten in Skardu, Khaplu und insbesondere in Shigar wurden hierzu auch die erforderlichen Voraussetzungen teilweise geschaffen. Allerdings stellt die heutige allgemeine politische Situation in Pakistan für den Besuch von ausländischen Touristen ein großes Hindernis dar. Hinzukommt, dass die hohe Ausfallquote bei den Flügen von Islamabad nach Gilgit und Skardu Kurzzeitbesuche fast unmöglich macht. Die Entwicklungspotentiale insbesondere im Bereich des Bergwanderns (Trekking) sind zwar erheblich, während die aktuellen Zahlen allerdings mehr als ernüchternd sind. So wurden 2004 für ganz Gilgit-Baltistan 1776 Personen als Trekker registriert. Für die im Osten Baltistans gelegene populäre Baltoro – Gondo Kodro –Hushe Route zählte man gerade Mal 182 sogenannte „Trekking parties“. Verglichen mit dem zugegebener Maßen erheblich größeren Nepal, das jährlich von zwischen 150.000 und 200.000 Trekkern besucht wird, sind diese Zahlen für Baltistan geradezu verschwindend gering. Zwar ist das Entwicklungspotential für Baltistan in diesem Bereich angesichts der grandiosen Landschaft, der bedeutenden Kulturdenkmäler und einer Fremden gegenüber überaus freundlichen Bevölkerung zweifellos gewaltig. Es fehlt aber für den normalen Bergwanderer ein großer Teil der z. B. in Nepal vorhandenen Infrastruktur, wie einfache Übernachtungsmöglichkeiten auf dem Wanderweg oder auch nur die Möglichkeit, auf dem Weg durch die Täler Baltistans in einfachen Restaurants einen Imbiss oder Getränke serviert zu bekommen. 

4. Überblick über die Geschichte Baltistans

Siehe auch den Sonderartikel Zeittafel zur Geschichte von Baltistan (Klein-Tibet)

Über die frühe Geschichte der Besiedlung Baltistans, also über das, was man gemeinhin als Ur- und Frühgeschichte bezeichnet, liegen uns weder schriftliche Zeugnisse noch archäologische Befunde vor.  Eine Ausnahme sind wohl Darstellungen von Tieren, insbesondere von Steinböcken, die sich an vielen Stellen in Baltistan finden. Ausgrabungen zumThema Ur- und Frühgeschichte haben bisher nicht stattgefunden.

   

Abbildung 96: Felsbild mit der Darstellung von Steinböcken im Bereich der Bergfestung von Nar (Oktober 2008)

 

Abbildung 97: Felsbild mit der Darstellung von Steinböcken bei Shigar (Oktober 2007)

Für die nachfolgende Zeit des 1. Jahrtausend n. Chr. ist es kennzeichnend, dass die Forschung immer wieder versucht hat, insbesondere geographische Berichte über die angrenzenden Gebiete von Baltistan mit diesem Land in Verbindung zu bringen. Da für die Übersetzer historischer Quellen die Behandlung geographischer Angaben häufig mit dem Zwang verbunden ist, Ortsangaben (Toponyme) geographisch zu identifizieren, verlässt man regelmäßig den Grundsatz, dass das Eingeständnis des Nichtwissens die Basis des Wissens ist, und flüchtet sich in Vermutungen, die dann nicht selten nach einiger Zeit als gesicherte Tatsachen angesehen werden.

4.1. Die Suche nach einem Land, indem kein Berichterstatter war: Die Geschichtsperiode bis zum 15. Jahrhundert

4.1.1. Palola: Groß- und Klein-Balūr, Bru-zha

Siehe auch den Sonderartikel Palola (Bolor)

Alexander Cunningham (S. 45ff) war einer der ersten, die die Meinung vertreten haben, dass Baltistan mit dem Land Bolor (Balūr, Balur, Palur, Palūr, Po-lu-lo, Pou-lu, P’o-lü, Po-lü, Palola, Paṭola) gleichzusetzen sei. Da aus China kommende Pilger zwischen dem 4. Jahrhundert und 8. Jahrhundert n. Chr. auf ihrem Weg von Zentralasien die Großregion westlich des heutigen Baltistans auf ihrem Weg nach Indien durchreisten und über ihre Reise berichteten, war damit die Hoffnung gegeben, aus diesen Berichten, die teilweise auch Bolor erwähnten, früher Informationen über Baltistan zu erlangen. Die wichtigsten hier zu erwähnenden Reisenden waren  Fa-hsien (Faxian, 法顯) [zwischen 399-414], Hsün-tsang  (Xuanzang, 玄奘) [zwischen 627 und 645] und der Koreaner Hui-chao (Hyecho, 慧超) [zwischen 723 und 727/28], wobei uns die letzten beiden Informationen über das Land Bolor hinterlassen haben.

   

Abbildung 98: Chinesischer Wandermönch nach einer Darstellung in den Höhlen von Dunhuang. Quelle: Zhang Wenbin, S. 137 

 

Abbildung 99: Der Wandermönch Hsün-tsang. Quelle: Wikimedia Commons  http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Xuanzang_w.jpg?uselang=de

Nachdem die Bezeichnungen Groß-Bolor und Klein-Bolor für unterschiedliche Regionen insbesondere durch die 1903 und 1904 veröffentlichten Arbeiten von Chavannes bekannt wurden, pflegte man Groß-Bolor mit Baltistan zu identifizieren, während man Klein-Bolor, welches in tibetischen Quellen als Bru-zha bezeichnet wurde, mit Gilgit gleichsetzte. Ein letzter großer Versuch, diese Identifizierungen der Toponyme Groß-Bolor und Klein-Bolor (=Bru-zha) zu begründen, wurde in der 1977 veröffentlichten Arbeit „Bolor – A Contribution to the Political and Ethnic Geography of North Pakistan“ von dem Völkerkundler Karl Jettmar unternommen. Das Tragische an dieser wohl als historisch und methodisch verfehlt zu bezeichnenden Arbeit liegt darin, dass der Autor selbst maßgeblichen Anteil an der Erforschung und Erschließung der Felsbilder und Felsinschriften von Nordpakistan hatte. Damit ist ein wichtiger Teil der Quellen genannt, die uns heute auf der Grundlage der Arbeiten von Oskar von Hinüber die Möglichkeit geben, das Gebiet Bolor, das richtigerweise als Palola zu bezeichnen ist, geographisch und historisch korrekter einzuordnen. Groß-Bolor oder richtigerweise Palola ist dem Großraum Gilgit – Chilas zuzuordnen, während sich Klein-Bolor bzw. Bru-zha in dem Raum des heutigen Yasin befand. Dazu, dass Baltistan für eine bestimmte Periode des 8. Jahrhunderts zum Königreich Palola gehörte, gibt es keinerlei historische Belege. Mit Sicherheit beziehen sich die Berichte von Hsün-tsang und Hui-chao nicht auf Baltistan.

Schließlich ist noch anzumerken, dass der von F. W. Thomas unternommene Versuch, Personen, die in dem im Tibetischen Kanjur (bKa´-´gyur) enthaltenen Sūtra-Text Dri-ma med-pa´i ´od kyis zhus-pa („The Inquiry of Vimalaprabhā“) auftreten, mit Baltistan in Verbindung zu bringen, heute als wissenschaftlich überholt zu betrachten ist. Einerseits ist der in diesem Sūtra auftretende sagenhafte König Īśvaravarman keinesfalls, wie es Thomas (S. 160) als zweifelfrei festzustellen wagt, mit dem aus chinesischen Quellen bekannten Palola-Herrscher Sou-lin-t’o-i-tche (= Surendrāditya) gleichzusetzen. Andererseits ist die Identifizierung von sKar-rdo, dem Königreich von Īśvaravarman, mit Skardu in Baltistan einstweilen reine Spekulation und historisch nicht verwertbar.

Festzustellen ist, dass die Grundlage aller relevanten Forschungsergebnisse über Bolor (Palola) aus historischen Überresten (Handschriften aus jener Zeit, Steininschriften, Felsbilder und buddhistischen Bronzen) besteht. Historiographische Quellen, wie die Tang-Annalen und die „Alten Tibetischen Annalen“, beziehen sich im Wesentlichen auf die Geschichte dieses Landes für eine Zeit (1. Hälfte des 8. Jahr-hunderts), in der es seine Selbstständigkeit verloren hatte.

4.1.2. Bewertung archäologischer Funde

Siehe auch den Sonderartikel Altertümer von Baltistan.

Im Hinblick auf Baltistan ist für den hier zu betrachtenden Zeitraum seiner Geschichte bis zum 15. Jahrhundert festzustellen, dass bisher historiographische Berichte nicht aufgetaucht sind. Und da archäologische Grabungen – eine mehr als dringende Aufgabe für die Erforschung der frühen Geschichte Baltistans  – bisher nicht stattgefunden haben, ist man auf Zufallsfunde von Überresten als einzige relevanten Quellen angewiesen. Von Godfrey Thomas Vigne, dem ersten Baltistan-Reisenden, wurde im Januar 1836 im Journal of the Asiatic Society of Bengal ein Schreiben über eine tibetische Inschrift veröffentlicht, die er in der Nähe von Skardu entdeckt hatte. Die Inschrift befand sich unterhalb eines Felsreliefs mit Darstellungen diverser Buddha-Figuren auf einem Felsen unweit des Weges von Skardu zum Satpara-See, und wurde deshalb auch als Inschrift von Satpara bzw. Manthal bezeichnet. Das Felsrelief und die drei auf ihm zu findenden tibetischen Inschriften sind zusammen mit der Geschichte ihrer Bearbeitung in dem Sonderartikel  „Buddha-Felsrelief bei Skardu“ behandelt worden. Die tibetischen Inschriften stammen aus einer Zeit, in der Baltistan schon dem tibetischen Großreich einverleibt waren war. Ob das Relief selbst vor dieser tibetisch geprägten Epoche Baltistans entstanden ist, vermag ich nicht festzustellen.

Abbildung 100: Buddha-Felsrelief bei Skardu (Oktober 2008)

Nachzeichnungen von mehreren Stupas und anderer Felsbilder aus Baltistan wurden erstmalig 1884 von Ujfalvy (S. 248) ohne Angabe der Fundorte publiziert (Abbildungen 101 - 108):

         

Abbildung 101: Stūpa mit tibetischen Inschriften

 

Abbildung 102:Stūpa

 

Abbildung 103: Stūpa

 

Abbildung 104: Stūpa und Sonne (?)

         

Abbildung 105: Offenkundig neuzeitliche Felsinschrift mit dem bekannnten Mantra oṃ maṇi padme hūṃ

 

Abbildung 106: Kampfszene

 

Abbildung 107: Jagdszene

 

Abbildung 108: Fluchtszene

Die auf Abbildung 101 zu lesende tibetische Inschrift liest sich wie folgt: oben (1) ā, unten (2) rgu mar rkon dbang (3) phyug skus bzhengs pa "Errichtet von Phyug-sku, dem rKon-dbang (?) von rGu-mar" oder "Errichtet von rKon-dbang Phyug-sku aus rGu-mar" oder "In rGu-ma errichtet von rKon-dbang Phyug-sku".

Hinweise auf einen als älter einzustufenden Zeitabschnitt Baltistans, in dem das Tibetische noch nicht Schriftsprache in war, gibt es mehrere. So berichtete Ahmad Hasan Dani (S. 217) das Folgende über Funde im Gebiet der heutigen Stadt Skardu: „Close to the city, not far from the modern Radio Station, there is another important site of Buddhist monastery, wherefrom inscribed sealings and seals of a period ranging from 6th-8th Century A. D. have been recovered. The writing is in the post-Gupta Brahmi character and the reliefs in terracotta sealings show figures of Bodhisattvas and stupas of a type known in the Gilgit subregion. Similar rock carvings have been noticed in the previous chapter near Gol …” Dani (S. 143) merkt an, dass man in Shigar eine Brahmi-Inschrift gefunden habe und zu Gol schreibt er an gleicher Stelle: „From Gol, 20 miles north of Skardu on way to Khaplu, several Buddhist records in the Brahmi character of the fifth Century A. D. (not yet published) alongwith Stupa drawings are known. Similar writings are also known from Yugo, lying further ahead.” Abgesehen von der Inschrift in Shigar ist mir nicht bekannt, dass irgendetwas von diesen erwähnten Funden jemals veröffentlicht wurde.

Glücklicherweise wurde die Brahmi-Inschrift von Shigar (Abbildung 109) zusammen mit einer weiteren Brahmi-Inschrift, die man westlich von Skardu in der Nähe des unteren Kachura(Katsura)-Sees aufgefunden hat (Abbildung 110), von Oskar von Hinüber veröffentlicht und bearbeitet. Eine weitere Brahmi-Inschrift befindet sich auch in der Nähe der Fundstätte der schon erwähnten Inschrift von Shigar (Abbildung 111).

   

Abbildung 109: In Brahmi-Schrift geschriebene Sanskrit-Inschrift von Shigar. Quelle: Jettmar (1), Plate 135

 

Abbildung 110: In Brahmi-Schrift geschriebene Sanskrit-Inschrift von Kachura. Quelle: Jettmar (1), Plate 136

Abbildung 111: Felsen bei Shigar mit der Darstellung eines Stūpa, einer bisher nicht entzifferten Brahmi-Inschrift und mit Tierdarstellungen (Oktober 2008) 

Die oben aufgeführte erste Inschrift von Shigar (Abbildung 109) wurde erstmals von Oskar von Hinüber im Jahre 1989 übersetzt (von Hinüber (1), S. 66ff). Eine zweite Übersetzung und verbesserte Lesung legte er 2004 vor (von Hinüber, S. 68ff). Hiernach nennt die Inschrift einen Kuñjāna(~ Kuljāna)-König, der Herr des Gebiets Saṃbhūtānnā ist, und einen Gaṇḍi-Königsohn. Als Verfasser der Inschrift wird ein Buddhabala genannt. Über die genannten Personen und das Land Saṃbhūtānnā ist nichts bekannt. Ob die Inschrift einen buddhistischen Bezug hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Anders ist dies mit der Inschrift von Kachura (Abbildung 110), die in von Hinüber (2) (S. 74f) ediert und kommentiert  wurde. Sie nennt ein buddhistisches Kloster Navasaṃghārāma und erwähnt den Mönch Saṃgharakṣita. Die Inschrift hat von daher einen klaren buddhistischen Bezug.

Aus den beiden bearbeiteten Inschriften lässt sich nur ableiten, dass vor der Einverleibung Baltistans in das tibetische Großreich in Baltistan Sanskrit als eine Schriftsprache benutzt wurde und dass der Buddhismus in Baltistan verbreitet war. Damit zeigt sich auch eine kulturelle Parallele zu Palola. Im Übrigen ist der Zeitraum 721-722 sicherlich ein Terminus ante quem für die Eroberung von Baltistan durch Tibet. Es ist meines Erachtens nicht vorstellbar, dass die Tibeter das nordwestlich von Baltistan gelegene Palola eroberten, ohne die nördliche Flanke Baltistan, welches mit dem Mustagh-Pass auch noch einen Zugang zu Zentralasien besaß, militärisch abgesichert zu haben.

1913 entdeckte Filippo De Filippi unweit des schon erwähnten, zwischen Skardu und dem Satapara-See gelegenen großen Buddha-Felsreliefs ein weiteres Felsbild, von dem ein Photo nur in der 1923 erschienenen italienischen Fassung seines Expeditionsberichtes (de Filippi (2), S. 65) veröffentlicht wurde.

Abbildung 112: Zweites Felsrelief bei Skardu nach de Filippi (1913)


Das Felsbild zeigt in der oberen Reihe von links nach rechts zunächst einen Stūpa (?) und zwei sitzende Buddhas. De Filippi geht in seiner Beschreibung davon aus, dass es sich hier um drei Buddha-Figuren handelt. Rechts daneben kniet eine Person, die ebenfalls wie die Buddha-Figuren einen Heiligenschein besitzt, in anbetender Haltung. Eine Parallele in der Anordnung der abgebildeten Figuren zum großen Buddha-Felsen (Abbildung 100) weist der übergroße, links stehende Bodhisattva auf, der eine Krone trägt. Unterhalb der Buddha-Figuren ist eine Gruppe von drei bis vier Männern erkennbar, die sich offenbar von rechts nach links auf etwas zu bewegt, das nicht genau erkennbar ist. Eigentümlich ist die Kopfbedeckung dieser Männer, für die es keine Parallele in den Abbildungen von Personen aus Palola gibt. Die Männer tragen vermutlich Hosen. Unterhalb dieser Gruppe erkennt man wiederum drei Personen, bei denen es sich möglicherweise um die Stifter handelt. Rechts erkennt man eine Frau, die ein langes Gewand trägt und einen auffälligen Kopfschmuck aufweist, der dem der Stifterin ähnelt, die auf dem Felsbild von Nar abgebildet ist (Abbildung 115). Eine zeitliche Einordnung dieses Felsbildes ist mir nicht möglich. Jedenfalls weist meiner Meinung nach dieses Felsbild keine Ähnlichkeit zu den mir bekannten, vergleichbaren Abbildungen aus dem Gebiet des ehemaligen Palola auf. Man kann nur hoffen, dass dieses hochinteressante Felsbild nicht zerstört wurde und für weitere Untersuchungen noch zur Verfügung steht.

Von besonderer Bedeutung ist das mit roter Farbe gemalte, buddhistische Felsbild von Nar, welches von Nazir Ahmad Khan im Jahre 1994 entdeckt worden ist. Auch dieses Felsbild ist nicht der Kultur zuzuordnen, die wir in den Felsbildern aus dem Großraum Chilas vorfinden. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist dieses Felsbild von Nar einer auf das tibetische Großreich folgenden Zeitepoche zuzurechnen.

Abbildung 113: Ausschnitt aus dem buddhistischen Felsbild von Nar (Oktober 2010)

      

Abbildung 114: Stifter des zweiten Felsreliefs von Skardu

 

Abbildung 115: Stifter des Felsbildes von Nar

 

Abbildung 116: Person auf dem Felsbild von Nar

Mit der Zuordnung von Baltistan zum tibetischen Großreich wechselte auch die verwendete Schriftsprache. Die Zahl der bisher aufgefundenen tibetischen Schriftdenkmäler ist allerdings sehr klein. Neben den Inschriften auf dem Buddha-Felsen von Skardu sind hier zunächst nur eine tibetische Inschrift aus Shigar und ein sehr kurze Inschrift aus dem Bereich der Burg von Saling zu erwähnen. Hinzu kommen die beiden tibetischen Inschriften, die auf den von Ujfalvi veröffentlichten Felsbildern zu sehen sind (siehe Abbildungen 101 und 105). Vor diesem Hintergrund ist es schon mehr als verwunderlich, wenn Wolfgang Holzwarth (S. 21) zur tibetischsprachigen Literatur von Baltistan folgendes feststellt: „We have rather reliable evidence for a flourishing Buddhist literary culture in Baltistan until the early 13th century.“

Zusammengefasst kann nach dem heutigen Stand der Wissenschaft über die hier zu behandelnde Periode bis zum 15. Jahrhundert nur festgestellt werden, dass in Baltistan vor 720 n. Chr. Sanskrit als Schriftsprache verwendet wurde und dass der Buddhismus schon vor dieser Zeit in diesem Land verbreitet war. Nach 720 taucht das Tibetische als Schriftsprache auf. Der Buddhismus wurde weiterhin in Baltistan praktiziert. Anzumerken ist noch, dass mit der folgenden Islamisierung Baltistans nicht nur der Buddhismus verschwand, sondern auch der Gebrauch des Tibetischen als Schriftsprache endete. Das Schrifttibetische wurde durch das Persische ersetzt. Als gesprochene Sprache war aber weiterhin das Tibetische in Form des Balti-Dialekts vorherrschend, über dessen Anfänge wiederum uns keinerlei Informationen vorliegen.

Letztendlich ist noch anzumerken, dass wir, trotz der gegenteiligen Spekulationen von Shahzad Bashir (S. 257), bisher nichts darüber wissen, wie tief der Buddhismus in der Bevölkerung von Baltistan verwurzelt war. Für das benachbarte Ladakh sind uns unmittelbar mit dem Beginn des 2. Jahrtausend n. Chr. frühe Aktivitäten zur erneuten Verbreitung des Buddhismus, z. B. durch den berühmten Übersetzer Rin-chen bzang-po (958-1055), bekannt. Tibetische buddhistische Schulen, wie die Kadampa (bKa´-gdams-pa) und die Drikhungpa (´Bri-khung-pa), waren im Mittelalter in Ladkah aktiv (Petech, S. 165f). Vergleichbares ist aus tibetischen Quellen für Baltistan nicht bekannt. Auch finden sich bisher keine Hinweise auf Studierende oder Lehrer, die aus Baltistan kommend in den Klöstern von Zentral- oder Osttibet auftauchten. Der in tibetischen Geschichtsquellen gelegentlich mit dem Titel sBal-ti dGra-bcom-pa erwähnte Gründer des tibetischen Klosters sKyor-mo lung, der von 1129 bis 1215 lebte, stammt nicht aus Baltistan. Die Namensbezeichnung sBal-ti ist ein alter tibetischer Klanname, der keinen Hinweis darauf bietet, dass diese Familie aus Baltistan stammt (Sörensen, S. 690ff und 697f).

4.2. Zur Islamisierung Baltistans

Siehe auch die Sonderartikel Islamische Khanqa-Gebetshallen in Baltistan (Klein-Tibet), Traditionelle Moscheen (Masjid) in Baltistan (Klein-Tibet), Matam Serai-Gedenkhallen und Astana-Grabmonumente in Baltistan (Klein-Tibet)

In Shahzad Bashirs umfangreicher Darstellung der islamischen Nūrbakhshīya-Sekte, die bei der Islamisierung Baltistans eine wichtige Rolle spielte, findet sich folgender bemerkenswerter Satz (S. 252): „The general lack of concrete information on the societies of Baltistan and Ladakh for the period means that commenting on the issue of Islamization in the region is largely a matter of informed speculation.” Gleichwohl hält diese wahrlich zutreffende Feststellung Bashir nicht davon ab, nachfolgend, teilweise basierend auf den abwegigen Explikationen von Richard M. Emerson, seitenlange Hypothesen und Spekulation zu diesem Thema niederzuschreiben. Besser wäre es wohl für die herausragende Arbeit von Bashir gewesen, hier Nichtwissen zu konstatieren und Forschungsaufgaben zu formulieren. Mit den folgenden Erläuterungen soll von mir der Versuch unternommen werden, für den gebildeten Laien das verständlich zusammenzustellen, was zum Thema Islamisierung Baltistans wissenswert erscheint. Dazu gehören nicht unbegründete Meinungen und Spekulationen von sogenannten Gelehrten.

In der im Jahre 982 n. Chr. geschriebenen, von V. Minorksy bearbeiteten persischen geographischen Beschreibung der „Regionen der Welt“ (Ḥudūd al-‘Ālam) findet sich ein Hinweis (S. 93), dass die heutige tibetische Hauptstadt Lhasa damals eine kleine Stadt mit zahlreichen Tempeln und einer muslimischen Moschee war. Eine Moschee mit einer muslimischen Gemeinde existiert auch heute noch in Lhasa. Vergleichbares kann man auch heute für Leh, den Hauptort von Ladakh, feststellen. Gleichwohl können sowohl Tibet und Zentral-Ladakh als buddhistische Länder bezeichnet werden. Eine Islamisierung dieser Länder hat nicht stattgefunden.

Anders verlief die Entwicklung in Baltistan. Hier ist zwar nicht historisch gesichert, wann dort die erste Moschee errichtet wurde, es ist aber unbestreitbar, dass der Islam seit mehreren Jahrhunderten die vorherrschende Religion in diesem Land ist. Die erste Bekehrung von Bewohnern Baltistans und die erste Errichtung von Moscheen in diesem Land wird Sayyid ’Ali Hamadani (ca. 1314-1385) zugeschrieben. Dieser islamische Heilige, der auch heute noch in Tadschikistan als Gelehrter und Dichter so geschätzt wird, dass ein Bild von ihm und seinem Grabmal auf einem 10 Somoni-Geldschein abgebildet erscheint, besuchte Kaschmir um das Jahr 1380. Während Hamadanis Aufenthalt in Kaschmir als historisch gesichert anzusehen ist, existiert eine Kontroverse darüber, ob Hamadani jemals Baltistan besucht hat. Insofern nach Holzwarth (S. 15ff) Belege zu der Reise Hamadanis nach Baltistan, die vor dem 19. Jahrhundert entstanden sind, bisher nicht aufgetaucht sind, kann der Bericht über diesen Besuch in die Kategorie „Heiligenlegenden“ eingeordnet werden. Ob diese Legende als „volkstümlich“ einzustufen und somit für das Selbstverständnis der Moslime in Baltistan heute als identitätsstiftend zu bewerten ist, oder ob es sich bei der Diskussion darüber um einen reinen Gelehrtenstreit handelt, vermag ich nicht zu entscheiden. Dass Hamadani, wie Hashmatullah Khan (S. 143) beschreibt, als Teil dieser Legendentradition der Bau diverser Moscheen im Skardu- und Shigar-Tal zugeschrieben wird, verwundert nicht. Darüber hinausgehende Diskussionen erübrigen sich solange, bis weitere Quellen zu dieser Frage auftauchen.

Letzteres ist allerdings nicht völlig auszuschließen. So berichtet Bashir (S. 250), dass die Biographie Tufat ul-ahbāb des Shams ad-Din ’Irāqī, die nach Holzwarth (S. 20) um 1552 geschriebenen worden ist, folgende Notiz zu dem Besuch dieses Heiligen in Baltistan enthält: Einer der Herrscher von Klein-Tibet, der hier als Ra’y Bahrām erwähnt wird, bat den ca. 1505 nach Baltistan gereisten ’Iraqi, er möge einen Schüler zurücklassen, um das von ihm und zuvor von ’Ali Hamadani begonnene Missionswerk vollenden zu lassen. Bashir vermutet wegen der Erwähnung von Hamadani, dass die hier zitierte Randglosse (marginal gloss) des von ihm benutzten Manuskripts später hinzugefügt wurde. Dennoch sollte man bei historischen Quellen immer auf Überraschungen gefasst sein, zumal man an dieser Stelle eine kritische Textedition des Tufat ul-ahbāb wohl noch nicht in Betracht gezogen hat.

   

Abbildung 117: Sayyid ’Ali Hamadani auf einem Geldschein von Tadschikistan 

 

Abbildung 118: Das Grabmahl von Sayyid ’Ali Hamadani auf einem Geldschein von Tadschikistan. Das Grabmal liegt in  Kulob in Tadschikistan  

Das über Hamadani Gesagte gilt auch für Berichte über den Besuch von Muhammad Nūrbakhsh (1392-1464), des Gründers der Nūrbakhshīya-Sekte, in Baltistan (Holzwarth, S. 19). Der Bericht über Nūrbakhsh's Wirken in Baltistan gehört einstweilen ausschließlich in den Bereich der Heiligenlegenden. Allerdings waren die von Nūrbakhsh verkündeten Lehren und die von ihm begründete und nach ihm benannte Nūrbakhshīya- Sekte für den Islam in Baltistan von herausragender Bedeutung.

Nach Andreas Rieck (S. 41) gehören die Angehörigen der Nūrbakhshīya-Sekte zu den „muslimischen Minderheitsgruppen, die in den entlegenen Tälern des Hindukush und Karakorum Zuflucht gefunden haben (found refuge).“ Historisch gesehen ist diese Zufluchttheorie aber nicht haltbar. Heute gibt es noch etwa 60 Dörfer in Baltistan, in denen die Angehörigen Nūrbakhshīya-Sekte die Mehrheit bilden. Von diesen liegen die meisten im Gangche-Distrikt und finden sich entlang des Tales des Sakyok-Flusses zwischen Kiris und Chorbat und in den Seitentälern des Thalle- und Hushe-Flusses. Angehörige der Nūrbakhshīya-Sekte leben auch in anderen Gegenden Baltistans, wo sie meist eine Minderheit bilden (Rieck, S. 43). Rieck (S. 47) schätzt den Anteil der Angehörigen der Nūrbakhshīya-Sekte in Baltistan (1997) auf ca. 25 % der Gesamtbevölkerung ein, wobei er einen Rückgang dieses Anteils von ehemals 50 % in den letzten einhundert Jahren unterstellt. Folgt man Riecks Angaben, dass sich die Zahl der Sunniten in Baltistan auf ca. 12.000 – 15.000 beläuft, so bestätigt sich die heute generell publizierte Ansicht, dass die Mehrheit der Muslime in Baltistan Anhänger der Shia, also Shiiten sind. Richtig ist, dass die ersten historisch belegten islamischen Missionare in Baltistan der von Muhammad Nūrbaksh im 15. Jahrhundert gegründeten Nūrbakhshīya-Sekte angehörten.

Folgen wir im Folgenden den Darlegungen Shahzad Bashirs (S. 41-75) über das Leben von Muhammad Nūrbaksh, so wurde dieser im Jahre 1392 in dem im heutigen Iran gelegenen Quhistan geboren und erhielt nach seiner Geburt den Namen Muhammad. Der aufwachsende  Muhammad erhielt seine religiöse Ausbildung in Khuttalan (siehe Abbildung 119) im Umfeld eines Ordens des Sufismus, einer islamischen Schulrichtung, in der Askese, mystische Erfahrungen und meditative, individuelle Gotteserfahrung von zentraler Bedeutung sind. Nachdem ein Mitschüler von Muhammad 1423 in einem Traum sah, dass vom Himmel kommendes Licht auf Muhammad herunterströmte und sich durch ihn auf andere Personen in der Welt verbreitete, verlieh ihm der geistliche Lehrer Khuttalānī den Beinamen Nūrbakhsh „Lichtbringer“. Im gleichen Jahr wurde Muhammad Nūrbakhsh in Khuttalan zum Mahdi, Messias der Endzeit, proklamiert, was eine militärische Intervention des örtlichen Timuriden-Herrschers Shārukh zur Folge hatte, in deren Verlauf achtzig Sufis getötet wurden. Khuttalānī und Nūrbaksh wurden gefangen genommen. Während man Khuttalānī 1424 hingerichtete, kam Nūrbaksh nach sechsmonatiger Gefangenschaft wieder frei, ohne seinen Anspruch, der Mahdi zu sein, aufzugeben. Nach einer langen Reise, die ihn unter anderem auch nach Bagdad führte, erreichte er schließlich Gebiete von Aserbaidschan, wo er erneut auf Befehl des Timuriden-Herrschers Shārukh gefangen genommen und in der Zeit zwischen 1834-1836 eingekerkert wurde. Nach seiner erneuten Freilassung setzte er sein ruheloses Wanderleben fort. Seine Aktivitäten führten zur Entwicklung der sufistischen Nūrbakhshīya-Sekte. Er verstarb am 14. November 1464 in Suliqān (Iran), wo er auch beerdigt wurde. Sein Grab ist noch heute ein Wallfahrtsort für Anhänger der von ihm gegründeten Sekte. Muhammad Nūrbaksh hinterließ ein umfangreiches literarisches Werk. 

   

Abbildung 119: Karte von Persien im 15. Jahrhundert. Quelle: Bashir, S. 43

 

Abbildung 120: Ein in Meditation versunkener Sufi. Quelle: Bashir, Umschlagbild

Für einen Geisteswissenschaftler sind die ausführlichen Darlegungen von Shahzad Bashirs (S. 109-158) zu der Weltanschauung und zu den Lehrinhalten der Nūrbakhshīya-Sekte deshalb von größtem Interesse, weil sie zeigen, dass viele der geistigen und meditativen Übungen dieses Sufi-Ordens eine große strukturelle Ähnlichkeit zu dem besitzen, was uns aus dem tibetischen Buddhismus bekannt ist. Dies setzt mit der überragenden Rolle ein, die ein geeigneter geistlicher Lehrer (shakh, im Tibetischen der bla-ma) für das Beschreiten des mystischen Pfades besitzt und spiegelt sich in dem zehngliedrigen Pfad wieder, durch den der Sufi sich von der materiellen Welt abwendet, um eine vollständige Vereinigung mit Gott zu erreichen. Das Beschreiten dieses zehngliedrigen Weges beginnt mit der Reue über das gegenwärtige Dasein und dem Entschluss sich Gott zuzuwenden. Es folgt die Abwendung von allen materiellen Gütern dieser Welt, Kontemplation von Gottvertrauen, Abtrennung von allen weltlichen Begierden, die Trennung von allen menschlichen Beziehungen außer von denen zu seinem geistlichen Lehrer, Reinigung des Geistes von allen Assoziationen, die von Gott ablenken, volle Konzentration auf Gott und Aufgehen der Seele in den Dienst an Gott. Lichtmeditationen, Kategorien mythischer Erfahrung und kosmologische Vorstellungen bilden ein geistig überaus anspruchvolles Konstrukt. Zu beachten ist, dass diese Vorstellungen und geistigen Übungen spätestens mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts in Baltistan Eingang fanden und für eine vorhandene buddhistische geistige Elite sicherlich eine attraktive Alternative zu vorhandenen buddhistischen meditativen Praktiken darstellten. Die Besonderheiten des Heilsweges der sufischen Nūrbakhshīya waren möglicherweise eine der Grundlagen für den missionarischen Erfolg des Islams in Baltistan.

   

Abbildung 121: Schematische Darstellung der Kosmologie der Nūrbakhshīya nach Bashir, S. 114

 

Abbildung 122: Schematische Darstellung der Lichtkategorien der Nūrbakhshīya nach Bashir, S. 120 

Unglücklicherweise beschränkten sich die bisherigen Forschungen zum Islam in Baltistan, abgesehen von der Frage nach der Islamisierung, auf äußerliche Aspekte, wie z. B. die bekannte Konkurrenz zwischen den verschiedenen islamischen Glaubensrichtungen oder die Frage, wann wer welche Gebetshalle errichtet hat. Die Darlegungen von Shahzad Bashir zur Weltanschaung der Nūrbakhshīya sollten die Grundlage dafür bieten, die bisherige Darstellung der Geschichte dieses Landes um diesen überaus bedeutsamen und hochinteressanten geistesgeschichtlichen Aspekt zu ergänzen.

Zu Beginn der 80er Jahre des 15. Jahrhunderts sandte Sultan Husain Bayqara, der in Herat regierte, Shams ad-Din Muhammad ’Irāqī (1429/30 - 1526), einen Schüler der zweiten Generation der Nūrbakhshīya, als Botschafter nach Kaschmir (Holzwarth, S. 19f). Hier hielt sich ’Irāqī zunächst acht Jahre lang auf. ’Irāqī war der Titel Shams ad-Din „Sonne des Glaubens“ wegen seiner erfolgreichen Meisterung mystischer Übungen von seinem geistlichen Lehrer Qāsim verliehen worden (Bashir, S. 204). Er sollte der erste islamische Geistliche sein, von dem wir aus nahezu zeitgenössischen Quellen wissen, dass er Klein-Tibet besucht und dort eine Missionstätigkeit entfaltet hat. Die erste dieser Quellen ist das schon erwähnte Tufat ul-ahbāb, eine Biographie, welche nach Holzwarth (S. 20) um 1552 von einem anonymen Autor aus Kaschmir geschrieben wurde. Bashir (S. 200) nennt als Autor dieses Werkes Muhammad ’Ali Kashmīri. Das Tufat ul-ahbāb erwähnt, dass ’Irāqī während seines zweiten Aufenthaltes in Kaschmir von dort verbannt wurde und mit fünfzig Sufis der Nūrbakhshīya-Sekte ca. 1505 nach Tibet reiste. Nach kurzem Aufenthalt in Baltistan erging an ’Irāqī eine Einladung, wieder nach Kaschmir zurückzukehren. ’Irāqī soll aber einen seiner Schüler, Haidar Hafiz, in Tibet zurückgelassen haben, um sein missionarisches Werk dort fortsetzen zu lassen. Die zweite Quelle, die das Wirken von ’Irāqī in Tibet  erwähnt, stammt von dem shiitischen Theologen und Biographen Nūrullah Shustarī, der in einem 1602 verfassten Werk schreibt, dass die Einwohner von Klein-Tibet seit der Zeit des Besuches von ’Irāqī zum Islam bekehrt worden sind (Holzwarth, S. 27). Vermutlich hat ’Irāqī niemals die Region des heutigen Baltistan besucht, sondern hielt sich in von Kaschmir aus der wesentlich leichter zu erreichenden Region von Drass und Purig auf (siehe auch Drass 2.3 Anmerkungen zur frühen Islamisierung von Drass und Purig).

Es ist ’Irāqīs Aktivitäten zu verdanken, dass die Verbreitung der im Iran entstandenen Nūrbakhshīya-Sekte im 1. Viertel des 16. Jahrhunderts in Kaschmir außerordentlich erfolgreich verlief. Dass der Glaube dieser Sekte von hier aus nach Baltistan ausstrahlte, verwundert angesichts der (unter anderem durch den Handel) bestehenden Kommunikationen zwischen Kaschmir und Baltistan nicht. Für die folgenden Jahre des 16. Jahrhunderts ist der Aufenthalt von zwei weiteren bedeutenden islamischen Geistlichen in Baltistan belegt.

1545 floh Sheikh Daniyal, der Sohn und Nachfolger von ’Irāqī, vor den Verfolgungen der Nūrbakhshīya-Sekte durch Mirza Haidar, der 1540 Kaschmir erobert hatte, nach Tibet. Sheikh Daniyal hielt sich ca. 4 Jahre lang in Tibet auf, wurde dann dort 1549 festgenommen und 1550 in Kaschmir hingerichtet (Holzwarth, S. 25; Bashir, S. 238). Wie bei seinem Vater dürfte der Aufenthaltsort nicht das heutige Baltitsan, sondern Drass und Purig gewesen sein.

Der nächste in der Geschichtsschreibung der Mogul-Kaiser erwähnte, als bedeutend angesehene muslimische Geistliche, der tatsächlich Baltistan besuchte, war Shah ’Arif, ein Shiitischer Derwisch. Shah ’Arif wurde am Moghul Kaiserhof als Geistlicher so sehr geschätzt, dass Al-Badaoni ihm in seinem Muntakhab ut-tawarikh (S. 98-101) ein eigenes Kapitel widmete. Shah ’Arif erreichte Baltistan im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts. Zuvor hatte er wegen Streitigkeiten mit dem kaschmirischen Herrscher ’Ali Chak (regierte von 1570-1578) Kaschmir verlassen müssen. Nach Abu´l Fazl (Vol. III, S. 847) heiratete Shah ’Arif in Baltistan eine Schwester von Ali Zād. Bei dem letztgenannten handelt es sich um den berühmten Skardu-Herrscher Ali Sher Khan. Nachdem die Truppen des Moghul-Kaisers Akbar 1586 Kaschmir erobert hatten, besuchte Kaiser Akbar 1589 Kaschmir. Auf dieser Reise sandte er, so berichtet  Abu´l Fazl (Vol. III, S. 838), als Botschafter Haji Mirzā Beg Kābulī zu Ali Sher Khan (Ali Rai), dem Herrscher von Klein-Tibet. Dieser Botschafter übermittelte dabei dem in Baltistan lebenden shiitischen Geistlichen Shah ’Arif die Aufforderung, sich bei Akbar einzufinden. Gegen den Willen von Ali Sher Khan und trotz heftigster Opposition von Seiten seiner Freunde und Anhänger verließ Shah ’Arif Baltistan. Er wurde am Hof von Akbar in Kaschmir wie ein Prinz empfangen (Abu´l Fazl,Vol. III, S. 847) .

Über die Reisen der oben genannten Geistlichen sind wir nur deshalb informiert, weil es sich um prominente Persönlichkeiten handelt, deren Erwähnung in der Geschichtsschreibung ihrer Zeit jedenfalls nicht deshalb erfolgte, weil sie in Baltistan missioniert haben. Wir können deshalb davon ausgehen, dass diese Männer nicht die einzigen islamischen Geistlichen im 16. Jahrhundert waren, die sich um die Verbreitung des Islams in Baltistan bemühten. Andererseits können diese herausragenden Vertreter des Islams bei ihren zum Teil jahrelangen Aufenthalten in Baltistan die Verbreitung und Festigung des Islams nicht aus den Augen verloren haben. Insofern wundert es nicht, dass der oben schon erwähnte Theologe und Biograph Nūrullah Shustarī in einem 1602 verfassten Werk feststellt, dass die Menschen im Herrschaftsbereich von Ali Sher Khan zum Islam konvertiert seien (Übersetzung nach Holzwarth, S.27): „Alle von ihnen, Herrscher, Soldaten und Bauern sind ernsthaft der Imāmī Shī’a zugewandt.“ Wir können somit konstatieren, dass die Islamisierung des Kernlands von Baltistan mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen war und dass es dazu keiner externen politischen und militärischen Pressionen, etwa von Seiten des Moghul-Kaiserreichs Indiens, bedurft hatte.

Das folgende 17. Jahrhundert und der Beginn des 18. Jahrhunderts waren die Zeiten der Festigung des Islams in Baltistan. Große Khanqa-Gebetshallen wurden als religiöse Zentren z. B. in Tagas (1602),  Shigar (1614), Kiris (1706), Khaplu (1712) und Skardu (1717) von Geistlichen errichtet und bildeten zusammen mit den Astana-Grabmonumenten dieser Heiligen somit Stätten der religiösen Verehrung, die heute noch Ziele von Wallfahrten sind. Über diese Heiligen wissen wir – abgesehen von ihren Namen – fast nichts. Hier steht der religionsgeschichtlichen Forschung noch ein weites Feld offen.

4.3. Periode vom 16. Jahrhundert bis 1842

Wie oben angemerkt, gehörten nach Mirza Haidars (S. 410) Beschreibung von Tibet zu Baltistan (Bálti) in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch die Provinzen Purik und "Ladaks". Mit Ladaks ist nicht die östliche Kernregion (Zentralladakh) des heutigen Ladakh um die Hauptstadt Leh angesprochen. Hierfür benutzte Mirza Haidar die Bezeichung Máryul. Ladaks bezeichnet bei Mirza Haidar vermutlich die Region, die späterhin als Unterladakh (Lower Ladakh) bekannt wurde.

Mirza Haidar erreichte mit seinen Truppen aus Kaschgar kommend Zentralladakh (Máryul) über den Karakorum-Pass und Nubra. Während die Herrscher von Nubra ihm heftigen Widerstand entgegensetzten, unterwarfen sich ihm die Herrscher von Zentralladakh ohne Gegenwehr. Mirza Haidar (S. 422) beschreibt auch den Raubzug seines Oberherrn Sultan Said Khan mit einem Gefolge von 1000 Kriegern nach Baltistan im Jahre 1532/1533. Baltistan war als Region für den Raubzug von Said Khan deshalb als geeignet ausgewählt worden, weil der an Höhenkrankheit leidende Sultan aus Nubra kommend bei dieser Operation tiefer gelegene Gebiete erreichte und keine hohen Pässe überqueren musste. Da in der Beschreibung dieses Raubzuges auch Shigar (Ashigár) erwähnt wird, besteht kein Zweifel, dass Said Khan die heute als Baltistan bezeichnete Region ausplünderte.

Nach dem katastrophalen Ende von Mirza Haidars Raubzug gegen Westtibet kehrte dieser 1534 mit dem Rest seiner ausgezehrten Truppe nach Zentralladakh (Máryul) zurück. Hier wurde er trotz des erbärmlichen Zustandes seiner Truppe freundlich empfangen. Letztendlich erreichte ihn aus Yarkand unter Führung von Mauláná Kudásh eine Verstärkung von 200 Kriegern. Über die folgenden Aktivitäten Mirza Haidars lesen wir in der Übersetzung von Elias (S. 461f):

 „Being reinforced by this band, we marched for Bálti, which touches the confines of Kashmir. All Bálti paid the appointed tax in kind, without hesitation and delay. Suru is a department of Bálti, and its chief defence and stronghold. Mauláná Kudásh asked permission from me to go and impose a levy upon Suru, but I would not consent to this, knowing that those infidels would not be willing to let anyone visit their districts and valleys. … But Kudásh, not accepting my refusal, was so importunate in his demands that I at last sanctioned his going, and he set forth. The people of Suru put him to death in a narrow pass, together with twenty-four worthy men who were with him ; they were subjected to a hundred ignominies, and were unable to strike a blow. Although our force numbered some seven hundred men, yet, on account of our poverty and want of arms, we were unable to avenge him…. Leaving Bálti we set out towards a province of Tibet called Zangskar.”

Die Darlegungen Mirza Haidars sind deshalb von großer Bedeutung, weil sie zeigen, dass nach dem geographischen Verständnis seiner Zeit zu Baltistan neben dem eigentlichen Kernland mit den Tälern des Shayok, des Shigar-Flusses und des Indus insbesondere große Gebiete im Westen Ladakhs einschließlich Kargil und Dras gehörten und dass insbesondere das langgestreckte Suru-Tal der Region Baltistan bzw. Klein-Tibet zugeordnet wurde. Folgen wir den Gebietsumschreibungen von Purik in späteren ladakhischer Herrscherurkunden des 18. Jahrhunderts, so bildete der Pass Fotu La (Pho-to la) die Grenze zwischen diesem südlichen Teil von Bálti und Ladakh. Mirza Haidars vorstehend geschilderter Ausflug nach Bálti führte ihn auch deshalb keineswegs zu der Region des heutigen Baltistan, sondern in den Westen des heutigen Ladakh, also nach Unterladakh und Purik. Zur Orientierung habe ich auf der nachfolgenden Karte die zum heutigen Baltistan gehörenden Gebiete rot schraffiert, während die zum heutigen Westteil von Ladakh gehörenden Regionen Baltistans blau gekennzeichnet sind. Dabei wurde das Gebiet des Suru-Tals mit gelber Farbe zusätzlich gekennzeichnet. 

Abbildung 122: Die Region Baltistan bzw. Klein-Tibet um 1500 aus der Sicht ihrer Nachbarn. Die Gebiete des heutigen Baltistans (rot gestrichelt) und als Baltistan bezeichnete Gebiete in Westladakh (blau und gelb gestrichelt)

Die vorstehenden Anmerkungen sind insbesondere deshalb von Interesse, weil sie uns klarmachen, dass bei Hinweisen von Quellen insbesondere aus dem benachbarten Kaschmir auf Ereignisse des 14. – 16.  Jahrhunderts, die Klein-Tibet oder Baltistan betreffen, keineswegs ersichtlich ist, welcher Teil von Baltistan bzw. Klein-Tibet gemeint ist.

Im 4. Kapitel seines Aufsatzes über die Islamisierung Baltistans behandelt Wolfgang Holzwarth (S. 21) Invasionen auswärtiger  Mächte, die dieses Land im 15. Jahrhundert über sich ergehen lassen musste: „Since the 13th century, the Balti area had been repeatedly invaded by foreign armies, both from the north (Mongol and Chaghatay empires) and the south (Kashmir). Between 1450 and 1500 alone, Baltistan was invaded at least three times by neighbouring Muslim states, in 1451 und 1483 by Kashmiri troops … and around 1499 by a Kashgar army.” Als Quelle für die Einfälle von Kaschmir zitiert Holzwarth Petechs “Kingdom of Ladakh”. Hier findet sich zunächst (S. 24) folgendes: „ About this time, in 1451; Baltistan was hit by another raid from Kashmir, led by Zain ul-Abidin´s eldest son Adham Khan ; as far as we know, Ladakh was not affected.” Zu dem Einfall des Jahres 1483 schreibt Petech (S.26): “In 1483 Sultān Hasan Shāh (1472-1484) sent Jahāngir Magre and Sayyid Hasan to invade Little and Great Tibet. Because of their disaccord, they proceeded by different routes. Sayyid Hassan reduced Baltistan and came back to Srinagar in triumph. Jahāngir entered Ladakh but was defeated and lost all his army, escaping with his bare life.”

Bezüglich der Ereignisse des Jahres 1451 sprechen alle von Petech zitierten Quellen, die mir allerdings nur in Übersetzungen vorliegen, ausschließlich von Tibet oder Bhuṭṭa (=Tibet). Zu dem Überfall des Jahres 1483 berichtet die hierzu von Petech zitierte Quelle, nämlich Śrīvaras Rājataraṅgiṇi (S. 253), zwar von Überfällen auf Klein- und Groß-Bhuṭṭa, lässt aber offen, welcher dieser beiden Überfälle erfolgreich war und schweigt sich zudem darüber aus, was mit Klein-Bhuṭṭa gemeint ist. Insofern den beiden Anführern dieser Überfälle eine gemeinsame Operation von Kaschmir aus gegen beide Länder empfohlen wurde, ist die Identifizierung von Klein-Bhuṭṭa mit dem heutigen Baltistan schon aus geostrategischen Gründen auszuschließen. Da Ladakh bzw. Groß-Bhuṭṭa eines der Ziele war, kann mit Klein- Bhuṭṭa nur der westlich von Ladakh gelegene Großraum um Kargil gemeint sein.

Bei der nach Holzwarth im Jahre 1499 erfolgten Invasion von Baltistan dürfte es sich um die von Mirzá Abá Bakr aus Yarkand veranlasste Invasion von Tibet, Kaschmir und Balur handeln. Mirza Haidar (S. 253f) berichtet über diesen Überfall, der von einem Truppenführer namens Mir Vali geleitet wurde, folgendes: „In the first place, he sent an army into Tibet. It gained glorious victories, subdued most of the districts of Tibet as far as the frontiers of Kashmir, and carried such desolation into those countries, that nobody was left to withstand him. He next sent armies in the direction of Balur, which gained decisive victories and carried off untold booty.”

Für keinen dieser behaupteten Überfälle auf die Region des heutigen Baltistans gibt es somit einen historischen Beleg. Und selbst der belegte Überfall des Jahres 1532/33 von Seiten Sultan Said Khans war nicht das Ergebnis der geostrategische Planung Mirza Haidars, der neben Ladakh (Máryul) primär Kaschmir und Westtibet im Visier hatte, sondern ein Zufallsprodukt des schlechten Gesundheitszustands des räuberischen Khans aus Yarkand.

Mirza Haidar (S. 422)  erwähnt in seiner Beschreibung des Einfalls von Sultan Said Khan in Baltistan, dass Said Khan von einem lokalen Herrscher erwartet wurde, dessen Namen als Bahrám Chu wiedergegeben wird. Zweifellos handelt es sich hierbei um den König von Khaplu, der in Cunninghams Liste (S. 30) der Herrscher von Khaplu als Sultan Bairam aufgeführt ist. Mirza Haidar (S. 462f) erwähnt übrigens zwei weitere Herrscher (Chui) von Bálti, nämlich Tangi Sakáb, der ihn während seines Aufenthaltes in Zanskar 1534 aufsuchte und in einer Ortschaft namens Sut regierte, sowie Bághán, der als Herrscher (Chui) von Suru einzuordnen ist. Beide Personen sind geographisch der Region des heutigen Kargil-Distrikts zuzuordnen und waren, wenn man dies dem Namen nach beurteilt, keine Moslems.

Firishta (S. 287f) nennt zwei weitere Invasionen von Ladakh durch Mirza Haidar, die dieser nach seiner Eroberung von Kaschmir im Jahre 1540 unternahm (siehe auch Petech, S. 27f; Mirza Haidar, S. 20f; Rodgers, S. 117f). 1545 drang er nach Tibet ein und plünderte u.a. einen Ort, den Briggs als Looshoo erwähnt. Rodgers (S. 117) spricht von Lansur. Der Ort ist unbekannt und überhaupt dürfte sich Mirza Haidar bei dieser Aktion auf den Westen Ladakhs, also Purik, beschränkt haben. 1548 erfolgte ein erfolgreicher Feldzug Mirza Haidars gegen Klein-Tibet und Groß-Tibet, in dessen Folge er Mullah Qasim als Regenten für Klein-Tibet und Mullah Hasan als Regenten für Groß-Tibet installierte. Allerdings ist bezüglich des hier genannten Klein-Tibet anzumerken, dass es sich dabei wiederum nicht um die Region des heutigen Baltistans handeln dürfte. Beide Regentschaften haben Mirza Haidars Tod im Jahre 1551 nicht überdauert. Mullah Qasim wurde schon vor 1551 in Tibet umgebracht (Bahāristān-i-Shāhī, 12-85). Zur gleichen Zeit revoltierten die Tibeter und trieben Mirza Haidars Truppen aus ihrem Land. 1553 ereignete sich ein Überfall von tibetischer Seite im Grenzgebiet zu Kaschmir. Als Antwort hierauf unternahm man von Seiten Kaschmirs im gleichen Jahr einen Einfall nach Ladakh (Firishta, S. 290). Auch hiervon waren sicherlich nur die Gebiete um Purik betroffen.

Als der Moghul-Kaiser Akbar 1586 Kaschmir eroberte, hatte sich die politische Situation in den Anrainergebieten Baltistan und Ladakh im Vergleich zu der Zeit der Invasionen von Mirza Haidar grundlegend geändert. Das zu der Zeit von Mirza Haidar noch in zwei Königreiche geteilte Ladakh war nun nach der Entstehung einer neuen Dynastie von Herrschern geeinigt und dehnte unter dem König Tshewang Namgyel (Tshe-dbang rnam-rgyal) seinen Einflussbereich u.a. bis in den Westen Tibets aus. In Baltistan hatte die Makpon-Herrscherfamilie des Skardu-Tales unter Ali Sher Khan (Ali Rai) eine Vormachtstellung erlangt, die Skardu für Außenstehende als das Machtzentrum von Baltistan erscheinen ließ. Dies hatte zur Folge, dass in der persischsprachigen Geschichtsschreibung des Moghul-Kaiserreichs des 17. Jahrhunderts nunmehr mit Klein-Tibet eigentlich Skardu als pars po toto der Region des heutigen Baltistans verstanden wurde, während man mit Groß-Tibet das Königreich Ladakh bezeichnete. 1589 reiste Kaiser Akbar nach Kaschmir und schickte je eine diplomatische Gesandtschaft nach Baltistan und Ladakh. In Ladakh ignorierte man die Suprematsansprüche der nunmehr angrenzenden indischen Großmacht sowohl zu der Zeit von Akbar als auch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts weitgehend. Das inzwischen muslimisch geprägte Baltistan verhielt sich völlig anders. 1591 kam es zu einer Verheiratung einer Tochter von Ali Sher Khan mit Prinz Salim, dem Sohn und Nachfolger von Kaiser Akbar. Ein darüberhinausgehendes Einlenken von Ali Sher Khan gegenüber Ansprüchen der Moghul-Großmacht ist nicht erkennbar. 1603 überfiel Ali Sher Khan Grenzgebiete von Kaschmir. Er musste sich aber angesichts einer anrückenden kaiserlichen Armee zurückziehen. Zwischen 1609 und 1613 unternahm Akbars Nachfolger Jahangir den Versuch einer Eroberung Baltistans. Die von ihm entsandte Armee wurde geschlagen und musste sich unter schweren Verlusten nach Kaschmir zurückziehen. Im Inneren seines Landes hatte Ali Sher Khan seine Verteidigungsstellungen deutlich ausgebaut. Dazu zählten die Errichtung der Bergfestungen Kharphocho und Kahchana im Gebiet der heutigen Stadt Skardu und vermutlich auch die Errichtung bzw. Verstärkung von Verteidigungsanlagen am Satpara-See, die sein Reich vor Einfällen aus dem Süden über die Deosai-Hochebene schützten. Über sein Verhältnis zu seinen größeren Nachbarn in Baltistan, nämlich Shigar und Khaplu, liegen uns keine zitierfähigen Quellen vor. Angesichts der Tatsache, dass die Festung von Shigar unter seinem Sohn Abdal Khan offenkundig der Herrscherfamilie von Skardu als Residenz diente, ist es als wahrscheinlich anzusehen, dass die Königshäuser von Shigar und Khaplu ihn, wie den zweihundert Jahre später regierenden Ahmad Shah, als Oberherrn anerkannt hatten.

Mit der Entstehung zweier Machtzentren in Baltistan und Ladakh erwuchs auch ein Konflikt, der das Verhältnis zwischen Baltistan und seinem südöstlichen Nachbarn Ladakh das ganze 17. Jahrhundert prägen sollte, nämlich der Kampf um die nach den Berichten von Mirza Haidar zu Baltistan gehörenden Gebiete von Purik und Dras. Natürlich hatte das aufstrebende Ladakh aus strategischen und handelspolitischen Gründen ein Interesse an dieser Region, während Ali Sher Khan und seine Nachfolger die traditionelle, u.a. auch durch eine gemeinsame Sprache und eine spätere Zugehörigkeit zum islamischen Glauben mitbegründete Zuordnung zu Baltistan im Blick hatten.

Der erste militärisch ausgetragene Konflikt um diese Region endete 1591/1592 in einer Katastrophe für den ladakhischen König Jamyang Namgyel (´Jam-dbyangs rnam-rgyal). Ali Sher Khan konnte ihn gefangen nehmen und überrannte mit seinen Truppen das Königreich Ladakh. Die Folge war die Zerstörung zahlreicher buddhistischer  Klöster, Bücherverbrennungen und Plünderungen. Ali Sher Khan kehrte mit reicher Beute nach Skardu zurück. An einer dauerhaften Ausdehnung seines Herrschaftsbereichs hatte er aber offenkundig kein Interesse. Jedenfalls ließ er die Wiedereinsetzung von Jamyang Namgyel als König von Ladakh zu. Weitere Kriege um die Region Purik/Dras zwischen Baltistan und Ladakh folgten 1639, zwischen 1651 und 1653 sowie zwischen 1673 und 1678/1679. Nach dem letzten Krieg fielen Purik und Dras endgültig an Ladakh.

Nach dem Tod von Ali Sher Khan regierte dessen Sohn Ahmad Khan für kurze Zeit in Skardu. Nach Ahmad Khans Tod übernahm sein Bruder Abdal Khan die Macht, wobei Murad Khan alias Shah Murad, der Sohn von Ahmad Khan, in der Thronfolge übergangen wurde. Abdal Khan wurde 1636 durch ein Invasionsheer des Moghul-Kaisers Shah Jahan, das Baltistan eroberte, abgesetzt. Der Einfall der kaiserlichen Armee wurde von einer  Gruppe von Exilanten aus Baltistan unterstützt, deren Ortskenntnisse bei der erfolgreichen militärischen Operation sicherlich eine große Hilfe waren. Zu den Unterstützern der von Zafar Khan, dem Gouverneur von Kaschmir, angeführten Truppen gehörte auch Adam Khan, der Bruder von Ahmad Khan. Die Querelen zwischen den Herrscherhäusern von Baltistan trugen somit maßgeblich zum Erfolg Zafar Khans bei. Nach einem kurzen Intermezzo einer Regierungsausübung durch den von Zafar Khan eingesetzten Murad Khan, wurde letzterer wieder vom Kaiser Shah Jahan abgesetzt und die Vertretung Baltistans und Herrschaft über Skardu an Adam Khan übertragen.

Adam Khan musste gleichsam als Garant für die Vorherrschaft der Moghul-Kaiser in Kaschmir residieren. Als Statthalter in Skardu setzte er Mirza Khan, ein Mitglied der Anthog-Herrscherfamilie von Kartaksho, ein. Die Zeit zwischen 1637 und 1650 war für Baltistan eine Periode relativer Ruhe und des Friedens. Nach dem erfolglosen Versuch von Murad Khan, sich im benachbarten Shigar festzusetzen, wurde dort das rechtsmäßige Mitglied der Amacha-Herrscherfamilie Imam Quli Khan als König inthronisiert. Imam Quli Khan unterhielt eigenständige Beziehungen zum Hof des Kaisers Shah Jahan. Murad Khan folgte seinem Onkel nach Kaschmir und wurde dort mit einer Tochter von Adam Khan verheiratet. In Rondu regierten Murad Khans Brüder Ali Shah und Sher Khan. In Khaplu hatte das Mitglied der alteingesessenen Yabgo-Herrscherfamilie Hussain Khan die Macht inne. Hussain Khan war mit einer Schwester von Murad Khan verheiratet. Aus dieser Ehe gingen zwei Söhne hervor, nämlich Babur und Yakub. Als Hussain Khan starb, übernahm sein Bruder Rahim Khan die Herrschaft in Khaplu. Er behandelte seine Schwägerin so schlecht, dass diese mit ihren Söhnen nach Purik ins Exil fliehen musste.

Es ist hier anzumerken, dass sich die Moghul-Kaiser um die innere politische Ordnung in Baltistan weder in dieser Zeit noch in den folgenden Jahrzehnten kümmerten. Adam Khan hatte eigentlich nur sicherzustellen, dass die Suzeränität des Moghul-Kaiserreichs nicht in Frage gestellt wurde, regelmäßig Tributzahlungen an den Kaiserhof geleistet wurden und die durch Baltistan führenden Verbindungen nach Zentralasien für kaschmirische Händler und sonstige Reisende passierbar waren. Letzteres war besonders wichtig, da der ladakhische König Senge Namgyel die alten Handelswege von Kaschmir nach Tibet und Zentralasien, die durch sein Territorium verliefen, nach dem Krieg um Purik des Jahres 1639 gesperrt hatte. Für die Regelung von Streitigkeiten innerhalb Baltistans waren, wenn sie überhaupt zu Rate gezogen wurden, die Gouverneure von Kaschmir zuständig.

1650 trat der Fall ein, dass die Vorherrschaft des Moghul-Kaiserreichs in Baltistan in Frage gestellt wurde. Mirza Khan, der Statthalter von Skardu, folgte nicht mehr den Anordnungen Adam Khans. Er unterbrach insbesondere die Verbindungswege zwischen Baltistan und Kaschmir und ließ einen Berater, den Adam Khan zu ihm geschickt hatte, töten. Als Reaktion hierauf rückte Adam Khan 1650/51 an der Spitze einer kaiserlichen Armee in Baltistan ein und setzte Mirza Khan ab. Er ließ es aber zu, dass sich Mirza Khan in sein angestammtes Gebiet Kartaksho zurückziehen konnte. Als Nachfolger von Mirza Khan wurde Adam Khans Schwiegersohn und Neffe Murad Khan, ein Enkel von Ali Sher Khan, als Statthalter von Skardu eingesetzt. Adam Khan zog sich wieder nach Kaschmir zurück.

Mit Murad Khan übernahm ein extrem machthungriger und wohl auch rachsüchtiger Mensch, der auch nicht vor Eidesbruch und Mord zurückschreckte, die Herrschaft in Skardu. Der in Kartaksho residierende Mirza Khan, den sein Onkel als Statthalter von Skardu aus begründetem Mißtrauen zunächst vorgezogen hatte, war ihm verhasst. Das gleiche galt für Rahim Khan von Khaplu, der seine Schwester und ihre beiden Söhne aus Khaplu vertrieben hatte. Mit Hilfe von Imam Quli Khan aus Shigar eroberte er zunächst Kartaksho. Als Herrscher setzte er hier seinen Bruder Sher Khan ein. Anschließend wandte er sich Khaplu zu, das er ebenfalls mit Hilfe von Imam Quli Khan einnahm. Den dortigen Herrscher Rahim Khan ließ er ermorden. Der nächste Kriegszug richtete sich gegen Purik, dass nach der Niederlage von 1639 wieder von ladakhischen Truppen unter König Deden Namgyel (bDe-ldan rnam-rgyal) besetzt worden war. Murad eroberte die Burg von Kharbu und nahm 900 ladakhische Krieger gefangen, die er aber im Austausch gegen seine Schwester und ihre beiden Söhne wieder freiließ. Danach zog er sich aus Purik zurück. Die Herrschaft über Khaplu übertrug er seinen Neffen Yakub und Babur. Die anschließenden Kriege gegen Gilgit führten trotz anfänglicher Erfolge nicht zu einer dauerhaften Vorherrschaft vom Murad Khan über dieses Land. Sein Versuch, sich Shigar zu bemächtigen, scheiterte schon im Ansatz aufgrund einer Intervention des Gouverneurs von Kaschmir. 1663 traf Murad Khan in Kaschmir mit dem Franzosen François Bernier zusammen, der im Gefolge des Moghul-Kaisers Aurangzeb nach Kaschmir gereist war. Murad Khan starb zwischen 1667 und 1670.

Nach Murad Khans Tod riss sein Bruder Sher Khan die Macht in Skardu an sich. Er entfachte zwei Kriege mit Imam Quli Khan, in deren Strudel ganz Baltistan hineingerissen wurde. Der zweite dieser Kriege wurde in den 80er Jahren des 17. Jahrhunderts beendet. Beide Kriege endeten mit Niederlagen für Sher Khan, der nach der zweiten Niederlage offenkundig selbst sein Herrschaftsgebiet Kartaksho aufgeben musste und nach Purik ins Exil ging. Die Herrschaft in Skardu übernahm Muhammad Rafi Khan, ein Sohn von Murad Khan.

In die Zeit zwischen den beiden genannten Kriegen fielen militärische Aktivitäten von Seiten Ladakhs, die sich gegen Purik und Khaplu richteten. Möglicherweise machte sich der König von Ladakh die Schwäche des vom Bürgerkrieg zerissenen Baltistan zu Nutze. 1673 griff der ladakhische Feldherr Shakya Gyatsho (Shākya rgya-mtsho) mit seinen Soldaten Unterladakh und Purik an. 1674 fielen seine Truppen in Baltistan ein und eroberten Khaplu mit der Festung Thortsi Khar sowie das südöstlich von Khaplu gelegene Chorbat. Die ladakhischen Truppen setzten in dem das Hushe-Tal umfassenden Teil des Königreichs Khaplu Hatam Khan, den Sohn des von Murad Khan und Sher Khan ermordeten Yabgo-Herrschers Rahim Khan, ein. Khaplu selbst mit der Festung Thortsi Khar verblieb bei Yakub. In Khaplu wurden ladakhische Truppen stationiert. Die Vorherrschaft von Ladakh über Khaplu währte nicht lange. 1678 trat Ibrahim Khan seine zweite Amtszeit als Gouverneur von Kaschmir an. Er marschierte ca. 1678/79 mit Truppen in Purik ein und forderte Sher Khan sowie Imam Quli Khan und Muhammad Rafi Khan auf, Hilfstruppen zu schicken. Wie auch immer dieser Kampf entschieden wurde, angesichts des 1679 begonnen und sich bis 1684 hinziehenden Krieges zwischen Zentraltibet und Ladakh war das Königreich Ladakh kaum in der Lage, seine Vormachtstellung in Purik und Ostbaltistan zu behaupten. Nach der Beendigung der Auseinandersetzungen in Purik vertrieb Yakub die ladakhischen Besatzungstruppen aus Khaplu. Seinem nachfolgenden Versuch, auch seinen Cousin Hatam Khan aus dem Hushe Tal zu vertreiben, war kein Erfolg beschieden. Im zweiten Krieg gegen Imam Quli Khan stand er auf der Seite seines Onkels Sher Khan. Nach dessen Niederlage war auch seine Herrschaft über Khaplu beendet. Von nun an herrschte Hatam Khan bis in die zwanziger Jahre des 18. Jahrhunderts in Khaplu.

In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre trat nach einer langen Zeit kriegerischer Ereignisse sowohl in Ladakh als auch in Baltistan eine Zeit der Ruhe und des Friedens ein. Die unter Senge Namgyel eroberten Besitzungen Ladakhs im Westen Tibets waren zwar an die Regierung von Lhasa verloren gegangen, dafür waren aber Ladakhs außenpolitische Beziehungen sowohl zum indischen Moghul-Reich wie auch zu Zentraltibet vertraglich so geregelt, dass größere neue Konflikte mit diesen beiden Mächten in den nächsten 140 Jahren nicht mehr stattfanden. Zudem konnte Ladakh  durch einen Balanceakt zwischen dem Moghul-Reich und Zentraltibet seine angestammte buddhistische Kultur bewahren. Territorial gelang es letztendlich Ladakh, durch die Einverleibung von Unterladakh, Purik und Dras sein Herrschaftsgebiet nach Westen zu konsolidieren. Der einzige wirkliche Gefahrenherd für Ladakh von Außen war in dieser sehr langen Periode aber Baltistan.

In Baltistan war Shigar aus der erfolgreichen Beendigung der Kriege mit Sher Khan als das für die nächsten vierzig Jahre wichtigste Machtzentrum hervorgegangen. Khaplu, dessen Herrscher Hatam Khan seine Einsetzung dem ladakhischen Königshaus zu  verdanken hatte und bei dem sowohl die Ermordung seines Vaters wie auch die zweimalige Belagerung von Thortsi Khar durch Skardu und Shigar sicherlich nicht Vergessenheit geraten war, schloss zum Schutz gegen seine aggressiven, westlichen Nachbarn eine Allianz mit Ladakh, die bis ins 19. Jahrhundert Bestand hatte. Unter Hatam Khan kam es sogar zu einer Eheschließung einer Prinzessin aus dem Yabgo-Herrscherhaus von Khaplu mit dem ladakhischen König Nyima Namgyel (Nyi-ma rnam-rgyal). Was Ladakh betrifft, so war die Erinnerung an die Eroberung durch Ali Sher Khan sicherlich noch lebendig und man war sich der Gefahr bewusst, die von einem vereinten Baltistan ausgehen konnte. Ladakh betrieb deshalb nach dem Motto „teile und herrsche“ im Bündnis mit Khaplu im Hinblick auf Skardu und Shigar eine Interventionspolitik, die immer dann zu einem militärischen Eingriffen von Seiten Ladakhs führte, wenn einer der genannten Teilstaaten den Versuch unternahm, Baltistan unter seiner Herrschaft zu vereinigen. Dabei war ein Einfall von Seiten Ladakhs militärisch stets unproblematisch, da man über Khaplu unbehelligt den Shayok erreichen konnte, von wo man im Verein mit Truppen aus Khaplu gegen die westlichen Staaten Baltistans vorrückte. Die Folge davon war, dass der kleine, zwischen Skardu und Shigar einerseits und Khaplu andererseits gelegene Pufferstaat Kiris häufig zum Austragungsort militärischer Auseinandersetzungen wurde.

In den 90er Jahren des 17. Jahrhunderts operierten ladakhische Truppen - zweifelsfrei mit Unterstützung von Khaplu - gegen Shigar. Von diesem unter Imam Quli Khan erstarkten Land ging unter dem Amacha-Herrscher Azam Khan in den ersten beiden Jahrzehnten die größte Gefahr für seine Nachbarn aus. 1716/1717 unternahm Azam Khan zusammen mit seinem Nachbarn Skardu einen Angriff gegen Khaplu. Dabei waren die Angreifer von Hatam Khans Sohn Dabla Khan ins Land gerufen worden. Letzterer war offenkundig der sehr langen Herrschaftszeit seines Vaters überdrüssig und wollte diesen auf die Weise beseitigen. Auf Bitten von Hatam Khan rückte eine große Armee unter dem Heerführer Sönam Lhündrub (bSod-nams lhun-grub) aus Ladakh nach Khaplu vor und vertrieb die Angreifer aus Skardu und Shigar.

1719 traf Azam Khan Vorbereitungen zur Eroberung von Skardu. Diesmal brach der ladakhische Truppenführer Tshülthrim Dorje (Tshul-khrims rdo-rje) nach einem Hilfeersuchen von Skardu mit einer großen Armee auf und rückte bis Hanu vor. Unter dem Eindruck einer bevorstehenden Invasion lenkte Azam Khan ein. Ein Frieden konnte einstweilen mit diplomatischen Mitteln sichergestellt werden. 

1722 eroberte Azam Khan dann doch die Länder Skardu, Kartaksho, Rondu, Nagar und andere Gebiete. Danach traf er Kriegsvorbereitungen, um Khaplu zu erobern. Diesmal wurde ein Krieg mit Ladakh unausweichlich. Wieder war es Tshülthrim Dorje, der die ladakhischen Truppen bei ihrem Einmarsch im Jahre 1723 anführte. In Kiris kam es zur Entscheidungsschlacht zwischen den Kriegern aus Ladakh und Khaplu einerseits und den Truppen aus Shigar, Skardu, Rondu und Nagar  andererseits. Azam Khan erlitt eine vernichtende Niederlage und flüchtete in Richtung Rondu und Gilgit. Tshülthrim Dorje ordnete die politischen Verhältnisse in Skardu und Shigar neu. In Shigar ernannte er Ali Khan, einen Bruder des geflohenen Azam Khan, zum neuen Herrscher, während er in Skardu Mohammad Zafar Khan, einen Sohn von Sultan Murad, inthronisierte.

Die ladakhischen Könige glaubten, die politischen Verhältnisse in Baltistan durch Loyalitätserklärungen der besiegten Völker von Skardu, Shigar, Kartaksho,Tolti und Parkuta mit dem Ziel einer stabilen Friedensordnung regeln zu können. Diese Fehleinschätzung der politischen Intentionen insbesondere der Makpon-Herrscher von Skardu führte dazu, dass in den folgenden einhundert Jahren regelmäßig militärische Interventionen von Seiten Ladakhs erforderlich waren, um die Politik des Teilens und Herrschens durchzusetzen. Diese zeigte sich alsbald an dem Verhalten von Mohammad Zafar Khan, der eigentlich als Herrscher von Ladakhs Gnaden in Skardu eingesetzt worden war. 1733 griff dieser Skardu-Herrscher Khaplu an und eroberte die Festungen von Saling und Tsheno, die noch im gleichen Jahr von ladakhischen Truppen wieder befreit wurden. Ein Jahr später, im Jahre 1734, belagert Mohammad Zafar Khan mit 4000 Mann die Bergfestung Thortsi Khar von Khaplu. Diesmal rückte ein Heer aus Ladakh in Baltistan ein, das von dem ladakhischen König Dekyong Namgyel (bDe-skyong rnam-rgyal) persönlich angeführt wurde. Mohammad Zafar Khans Armee erlitt eine vernichtende Niederlage. Die Verluste an Menschenleben und Kriegsmaterial waren so gewaltig, dass Mohammad Zafar Khan die nächsten 25 Jahre nicht mehr in der Lage war, seine Nachbarn zu bekriegen.

Für den weiteren Verlauf der Geschichte Baltistans im 18. Jahrhundert sind uns noch Berichte über drei weitere Versuche von Seiten der Herrscher aus Skardu bekannt geworden, die übrigen Königreiche in Baltistan zu erobern. 1759 und 1762 war es wiederum Mohammad Zafar Khan aus Skardu, der Versuche unternahm, sich des Königreichs Shigar zu bemächtigen und anschließend Khaplu zu erobern. 1759 ging er eine Allianz mit Mir Beg von Kiris ein. Es gelang ihm Hussain Khan, den König von Shigar, einzukerkern und in Kiris und Kuru neue Festungsanlagen zu errichten. Die in Kiris ausgetragenen Kämpfe mit den aus Ladakh und Khaplu gegen ihn vorrückenden Truppen gingen für ihn verloren. 1762 schloss er ein Bündnis mit Saadat Khan, dem Herrscher von Kartaksho, um zunächst Shigar zu erobern. Auch dieser Versuch scheiterte am Einrücken eines Interventionsheeres aus Ladakh, das dieses Mal entlang des Indus in Baltistan einmarschierte, zunächst Kharmang eroberte und anschließend Shigar einnahm. Mohammad Zafar Khan rettete sich durch eine Flucht nach Skardu.

Die gescheiterten Eroberungsversuche Mohammad Zafar Khans wurden offenkundig von seinem Sohn und Nachfolger Ali Sher Khan (II) fortgesetzt. 1785 verbündete sich der König von Skardu mit Shigar, um Khaplu anzugreifen. Der Krieg ging für die Angreifer im gleichen Jahr durch die Schlacht in Daghoni verloren.

So verwundert es auch nicht, dass Ali Sher Khans Sohn Ahmad Shah, der um 1800 die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, in die Fußstapfen seiner Vorfahren trat und erneut den Versuch unternahm, die übrigen Königreiche Baltistans zu erobern. Zunächst machte Ahmad Shah sich einen Konflikt zwischen Mohammad Sultan, dem Wesir des Königs Azam Khan von Shigar, und dessen Herrscher zu Nutze. Nachdem der Wesir 1802 seinen König  aus dem Land gejagt hatte, schlug Ahmad Shah sich auf die Seite des Wesirs und war mit seinen Kriegern in den Jahren 1804 und 1806 auf der Seite des Wesirs in die Kämpfe mit den einmarschierten ladakhischen Truppen verwickelt. Der Friedensvertrag von 1806, den auch Ahmad Shah unterzeichnen musste, garantierte Azam Khan die endgültige Rückkehr in sein Königreich. Die siegreichen Feldherren aus Ladakh installierten in der Bergfestung von Nar einen Burgvoigt und  hatten damit den Bereich ihrer Vorherrschaft über Kiris hinaus weit nach Westen vorgeschoben. Insofern auch Shigar nunmehr als zum Einflussbereich Ladakhs gehörend angesehen wurde, zeichnete sich die Zielsetzung ab, nunmehr ganz Baltistan in den Herrschaftsbereich von Ladakh einzuordnen. In einer im Juli 1810 ausgefertigten Urkunde (siehe Abbildung 123) des ladakhischen Königs Tshepel Döndrub Namgyel (Tshe-dpal don-grub rnam-rgyal, 1802-1837) wird von einer militärischen Aktion berichtet, die unter Leitung eines Truppenführers (dmag-´go) Künga (Kun-dga´) mit Soldaten aus Nubra, Chorbat und Khaplu von Shigar aus gegen Ahmad Shah durchgeführt wurde. Die Narratio dieser Urkunde beginnt mit der Feststellung, „in (dieser) Zeit, in der die Festung von Shigar unter unserer Herrschaft steht“, und berichtet, dass die ladakhischen Truppen nach ihrer Ankunft in Shigar in einer Schlacht 180 gegnerische Soldaten getötet hätten. Die geschilderten Ereignisse dürften im Zeitraum zwischen 1806 und 1810 stattgefunden haben.

Abbildung 123: Abschrift einer ladakhische Herrscherurkunde mit einem Bericht über einen Krieg in Shigar, ausgefertigt im Juli 1810. Quelle: Walravens/Taube: Abbildung 233

Für 1811 wird von einer militärischen Operation Ahmad Shahs in Tolti gegen Kharmang berichtet, was erneut eine Intervention von Seiten Ladakhs hervorrief. 1812 schlichteten ladakhische Gesandte nach dem Tod von Yahya Khan in Khaplu einen Streit um die Nachfolge zwischen dem noch minderjährigen Kronprinzen Daulat Ali Khan und dessen Halbbrüdern. 1815 stand dann erneut ein Feldzug gegen Ahmad Shah ins Haus, da dieser sich inzwischen – möglicherweise mit Zustimmung des örtlichen Herrschers – in Kiris festgesetzt hatte. Der Feldzug von no-no Tendzin (bsTan-´dzin), der mit einer dreihundert Mann starken Vorhut über Balghar nach Kiris vorgerückt war, führte zu einem Friedensschluss mit dem unterlegenen Ahmad Shah. Die Ladakher installierten nun einen Burgvoigt in Kiris und ließen in Nar eine Besatzungstruppe von einhundert Mann zurück. Diese Stationierung einer Besatzungstruppe auf einem Außenposten ohne die hinreichende Bereitstellung einer Infrastruktur für militärischen Nachschub führte zu einer Katastrophe. Nachdem die ladakhische Haupttruppe sich zurückgezogen hatte, unterbrach Ahmad Shah die Versorgung des Außenposten von Nar und nahm die gesamte Besatzungstruppe gefangen. Der ladakhische Heerführer no-no Tendzin verhandelte drei Monate von Khaplu aus mit Ahmad Shah und konnte die Freilassung aller Gefangenen erreichen. Diese Freilassung markierte einen Wendepunkt in der 140 Jahre praktizierten Politik der Einmischung in die inneren Angelegenheiten Baltistans von Seiten des ladakhischen Königshauses. Dabei ist nicht auszuschließen, dass auch andere Gründe für diesen Politikwechsel letztendlich maßgeblich waren. Jedenfalls fanden nun militärische Interventionen Ladakhs gegen Baltistan nicht mehr statt und es gelang Ahmad Shah in den folgenden fünf Jahren, alle Teilgebiete Baltistans zu erobern.

Allerdings erwuchs nach 1820 den Balti ein neuer Gegner, der für Baltistan eine weitaus größere Gefahr als Ladakh darstellte, nämlich der Punjab unter dem Mahārāja Ranjit Singh, der 1819 Kaschmir eroberte hatte. Die Geschichte der Beziehungen Baltistans mit diesem neuen mächtigen Nachbarn und mit dem sich in Indien nach Westen ausdehnenden britischen Kolonialreich ist in dem Artikel über Ahmad Shah ausführlich dargestellt worden, so dass dieser Teil der Geschichte Baltistans hier nicht wiederholt werden soll. 1840 eroberte der Dogra-General Zorawar Singh Baltistan. Nach dem Aufstand von 1841 wurde Baltistan von Wasir Lakhpat im Jahre 1842 ein zweites Mal erobert und war seit diesem Zeitpunkt für die nächsten 105 Jahre nur noch eine Art Verwaltungsbezirk von Jammu und Kaschmir. Die ehemaligen Königshäuser verloren ihre Machtstellung und überlebten als Großgrundbesitzer. Für die gewöhnliche Bevölkerung gehörte zwar die Last und der Schrecken der wiederkehrenden Kriege der Vergangenheit an, dafür musste sie es aber in Kauf nehmen, in den folgenden einhundert Jahren unter dem ausbeuterischen Steuer und Zwangsarbeitssystem der Mahārāja von Jammu und Kaschmir völlig zu verelenden.

4.4. Die Zeit der Dogra-Herrschaft und die Neuzeit

Sabine Lenz (S. 52) hat in ihrer Arbeit „Rechtspluralismus in den Northern Areas/Pakistan“ die Geschichte Baltistans unter der Dogra-Herrschaft mit folgendem kurzen Satz beschrieben: „Baltistan stand von 1846 bis 1948 unter der kontinuierlichen Herrschaft des Maharaja von Jammu und Kaschmir und wurde als Teil der Provinz Ladakh von der kaschmirischen Regierung verwaltet.“ An anderer Stelle (S. 93f) weist Sabine Lenz daraufhin, dass in Baltistan nach der Übernahme der Macht durch die Dogra eine Verwaltung „unter einem kaschmirischen Beamten, dem Thanedar“ mit Sitz in Skardu aufgebaut wurde, wobei es sich zunächst bei der Verwaltung „in Skardu zunächst nur um einen militärischen Stützpunkt (thana)“ gehandelt haben soll. Lenz nennt zwei dieser obersten Dogra-Administratoren, nämlich den Thanadar Kidaru (Kedaro) und Mehta Mangal. Die Quelle dieser Angaben sind die nur 2,5 Seiten umfassenden Darlegungen von Hashmatullah Khan (S. 139ff) über die Herrscher von Baltistan während der Dogra Herrschaft. Hashmatullah Khan war zu Beginn des 20. Jahrhunderts selbst oberster Verwaltungsbeamter (Wazir-i-Wazarat) der Region Ladakh und Baltistan und dürfte herausragende Kenntnisse über die Geschichte der Dogra-Verwaltung Baltistans gehabt haben. Die Kürze seiner Darlegungen macht somit nur deutlich, dass er an dem Thema der Verwaltung Baltistans durch die Dogra nicht wirklich interessiert war, zumal ihm an Quellen sicherlich umfangreiches Aktenmaterial zur Verfügung stand.

Für den Beginn der Dogra-Verwaltung in Baltistan erwähnt Hashmatullah Khan als Thanadar zunächst Bhagwan Singh. Dieser war, wie oben schon beschrieben, 1840 von Zorawar Singh unmittelbar nach der Eroberung von Baltistan als Kommandant in Skardu eingesetzt worden. Er wurde 1841 von den Aufständischen inhaftiert und nach der zweiten Eroberung von Baltistan durch Wasir Lakhpat offenbar nicht mehr mit diesem Amt betraut. Allerdings ist auch nicht bekannt, ob er seine Inhaftierung überlebt hat. Als nächsten Administrator erwähnt Hashmatullah Khan den Thanadar Gosaon, an den 1842/43 der gefangene König Ahmad Shah nach dessen Festnahme in Stag überstellt wurde. Als Thanadars, die auf Gosaon folgten, erwähnt Hashmatullah Khan nur die Namen Karam Singh und Jowahar Singh. Weitere Personen, die bis 1851, dem Jahr des Amtsantritts von Kedaro,  die Verwaltung Baltistans leiteten, hält er nicht für erwähnenswert. Kedaro, der Baltistan von 1851 – 1863 verwaltete, entzog, wie oben schon angemerkt, den alten Herrscherfamilien das Privileg der Steuererhebung  in ihren ehemaligen Herrschaftsgebieten. Kedaros Nachfolger, Wazir Labajo Kishtwaria, wird von Hashmatullah Khan mit dem Titel Kardar erwähnt. Da Gleiche gilt für Mehta Mangal, welcher der Dogra-Verwaltung in Baltistan von 1877 bis 1887 vorstand. Während Hashmatullah Khan als Aktivitäten von Wazir Labajo die Errichtung eines großen Palastes an einem Seitenarm des Satapara-Flusses hervorhebt, schreibt er Mehta Mangal neben umfangreichen Baumpflanzaktivitäten die Errichtung des Verwaltungszentrums Ranbir Gadh zu, das neben seiner Residenz Gerichtsgebäude und Unterkünfte für das Personal der Dogra-Verwaltung  beherbergte. Daneben beschreibt Hashmatullah Khan die Renovierung des Gefängnisses mit der Einrichtung von separaten Zellen für Untersuchungshäftlinge und verurteilte Verbrecher und den Bau einer neuen Festung für das Militär in Skardu. Letztendlich ist noch der Ausbau der Militärstützpunkte in Shigar und Stag, der Bau von Unterkünften für reisende Beamte und die Errichtung von Vorratsspeichern für Getreide zu erwähnen. Mehta Mangal wird übrigens von Ujfalvy erwähnt, der diesen Verwaltungsbeamten 1881 in Skardu mehrfach getroffen hat.

Auf Mehta Mangal folgten Bhai Kanga Singh, Rai Bahadar Pandit, Radha Kishan Kaul, Lala Dhanpat Rai und Syet Ghulam Jilani Shah sowie andere, deren Namen Hashmatullah Khan für nicht erwähnenswert erachtet. 1901 kam es zu einer Neuorganisation der nördlichen Gebiete von Jammu und Kaschmir (Lentz, S. 126). Baltistan wurde nun in das Wazarat (wizārat) Ladakh eingeordnet, welches von einem Amtsträger mit dem Titel Wazir-i-Wazarat geleitet wurde. Das Wazarat Ladakh wurde in drei Verwaltungsgebiete mit den Verwaltungssitzen Leh, Kargil und Skardu aufgeteilt, wobei der Wazir-i-Wararat zu unterschiedlichen, festgelegten Zeiten an diesen drei Orten residierte. Nach Afridi (S. 266) residierte er jeweils von September bis April in Skardu, um sich dann für zwei Wochen in Kargil aufzuhalten. Den Rest des Jahres weilte er in Leh.  Der Wazir-i-Wararat  unterstand dem Finanzminister (revenue minister) des Staates Jammu und Kaschmir. Als permanent residierende, höhere Verwaltungsbeamte wurden in Skardu ein Tehsildar (taḥṣīl-dār) und ein Naib-Tehsildar eingesetzt (Lentz, S. 127).  Mit der Neuordnung der Nordgebiete von Jammu und Kaschmir wurde 1901 die erste Landvermessung und neue Steuerveranlagung (settlement) für Baltistan unter Leitung von R. T. Clarke durchgeführt. Eine zweite Neuordnung des Abgabenwesens erfolgte 1911 unter dem Thanadar Thakar Singh (Schmidt, S. 111). Über die Struktur der Steuerverwaltung sind wir durch die Erläuterungen von Matthias Schmidt (S. 122ff) gut informiert.

Zu den Funktionen der mit den Titel Thanadar, Kardar und Wazir-i-Wazarat bezeichneten Ämter ist wenig bekannt. Siegfried Weber (S.  938) schreibt zu Thāna-dār folgendes: „Höchster Offizier eines Verwaltungsdistrikts (pargana), entschied über mindere Streitfälle und gebot über ein kleines Kontingent an Soldaten (40-50 Mann), war dem zivilen Beamten (taḥṣīl-dār) berichtspflichtig.“ Zu Kardar (kārdār) schreibt Weber (S. 927): „Beamter, der auf Bezirksebene (pargana) dem thāna-dār zuarbeitete und für mehrere Dörfer verantwortlich zeichnete, von denen er die Abgaben einzog und in denen er kleinere Streitfälle schlichtete.“ Zu dem 1901 eingerichteten Amt des Wazir-i-Wazarat bemerkt Weber (S. 941): „Leitender Beamter einer administrativen Einheit (wizārat) in Jammu & Kaschmir, verantwortlich für die Steuereintreibung, Wegeaufsicht, Post und Exekutive.“ Dass mit diesen Beschreibungen in einem Glossar die Funktionen und Befugnisse der Thanadar, Kardar und Wazir-i-Wazarat von Baltistan auch nicht annähernd umrissen sind, liegt auf der Hand. Grundsätzlich ist anzumerken, dass die mehr als einhundert Jahre umfassende Periode der Dogra-Herrschaft über Baltistan, vergleichbar mit allen anderen Epochen der Geschichte dieses Landes, wenig erforscht ist. Grundlage dieser Forschung können natürlich im Wesentlichen nur die Akten der Dogra-Administration in Kaschmir und den betroffenen Gebieten Ladakh und Baltistan sein. Immerhin liegt zur Methodik einer solchen Bearbeitung die mustergültige Arbeit von Siegfried Weber vor. 

Mit dem Ende des britischen Kolonialreiches in Indien und der Teilung des Subkontinents am 15. August 1947, aus der als neue Staaten Indien und Pakistan hervorgingen, blieb Baltistan zunächst im Gefüge des Herrschaftsbereichs des Mahārāja von Jammu und Kaschmir, welcher alsbald von Unruhen erschüttert wurde, die auch von Seiten des neuen Staates Pakistan geschürt wurden. Als der Mahārāja im Oktober 1947 seinen Beitritt zur Indischen Union erklärte, beanspruchte Indien das ehemalige Territorium von Jammu und Kaschmir einschließlich Gilgit und Baltistan für sich. Daraufhin kam es unter Führung der Gilgit Scouts zu einem Aufstand gegen die kaschmirischen Besatzer. Die Gilgit Scouts vertrieben die kaschmirischen Truppen aus Gilgit. Im August 1948 wurde von den Scouts zusammen mit einheimischen Truppen Skardu eingenommen, womit sich Baltistan einer über einhundert Jahre währenden Fremdherrschaft entledigte.

Mit dem Inkrafttreten eines Waffenstillstands zwischen Indien und Pakistan am 1.1.1949 wurde das Territorium von Jammu und Kaschmir dreigeteilt (siehe Abbildung 1). Seitdem stehen Jammu und das Kaschmir-Tal mit Ladakh und Purik unter indischer Verwaltung, während das sogenannte Azad Kaschmir eine - allerdings vollständig von Pakistan abhängige - eigene Regierung erhielt. Baltistan und Gilgit wurden zwar der pakistanischen Verwaltung unterstellt, eine Integrierung dieser beiden Länder in das Staatsgebiet von Pakistan fand aber nicht statt. Der politische Status von Baltistan auch heute noch nicht vollständig geklärt.

Nach den Darstellungen von Afridi (S. 266-280) wurde Baltistan in die folgenden sechs Niabat genannten Bezirke aufgeteilt: 1. Skardu Niabat mit 34 Ortschaften, 2. Rondu Niabat mit 24 Ortschaften, 3. Shigar Niabat mit 57 Ortschaften einschließlich Nar, 4. Khaplu Niabat mit 53 Orten, 5. Kharmang Niabat mit 53 Ortschaften einschließlich Kiris und Kuru und 6. Gultari Niabat mit 10 Ortschaften. Abgesehen von Kiris spiegelte diese Aufteilung weitgehend die Territorien der ehemaligen Königreiche von Baltistan wieder. 1972 kam es zu einer Umbenennung der Region von Gilgit und Baltistan in Northern Areas. Das Gesamtgebiet von Baltistan wurde nunmehr in zwei Distrikte, nämlich den Skardu-Distrikt und den Gangche-Distrikt geteilt.

   

Abbildung 124: Der Skardu-Distrikt von Baltistan. Quelle: Full Monn Night Travel. http://www.fmntrekking.com.pk/skudistt.html   

 

Abbildung 125: Der Gangche-Distrikt von Baltistan. Quelle: Full Moon Night Travel http://www.fmntrekking.com.pk/khaplu.html

Seit 2009 firmieren die ehemaligen Nordgebiete als Gilgit-Baltistan, welches zurzeit unter einer von der Regierung von Pakistan (Ministry of Kashmir Affairs and Northern Areas) verfügten Grundordnung oder Verfassung, der „Gilgit-Baltistan (Empowerment and Self-Governance) Order 2009“, regiert wird. Gilgit Baltistan umfasst die Distrikte Astor, Diamer, Gangche, Ghizer, Gilgit, Hunza-Nagar und Skardu. Dem halbstaatlichen Gebilde Gilgit Baltistan steht eine sogenannter „Governor“ vor, der vom Präsidenten von Pakistan ernannt wird. Gegenwärtiger Governor ist Pir Karam Ali ShahGilgit Baltistan besitzt ein für jeweils fünf Jahre gewähltes Parlament (Legislative Assembly), das aus 33 Mitgliedern besteht, darunter sechs Frauen auf speziell für sie reservierten Plätzen. Interessanterweise gehört zu diesem Parlament auch Raja Azam Khan, das jetzige Oberhaupt der ehemaligen Herrscherfamilie von Shigar. Die Regierung von Gilgit Baltistan wird von einem Ministerpräsident geführt, den das Parlament nach seiner Konstituierung aus seiner Mitte wählt. Der heutige Chief Minister ist Herr Syed Mehdi Shah. Der Ministerpräsident schlägt Mitglieder des Parlaments als Minister vor, die vom Governor ernannt werden. Das heutige Regierungskabinett umfasst neben dem Chief Minister noch acht weitere Mitglieder, darunter eine Frau. Grundsätzlich bleibt trotz der nun gewählten Konstruktion einer demokratisch legitimierten Selbstverwaltung die Frage nach dem Status von Gilgit Baltisan innerhalb der Verfassung von Pakistan weiterhin unbeantwortet.

         

Abbildung 126: Governor Pir Karam Ali Shah (2011)

 

Abbildung 127: Chief Minister Syed Mehdi Shah (2011)

 

Abbildung 128: Ministerin Saadia Danish (2011)

 

Abbildung 129: Minister Haji Gulbar Khan (2011)

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Autor: Dieter Schuh, 2011, geändert (4.2 Zur Islamisierung Baltistans) 2014

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