Tibet-Encyclopaedia

 

Abbildung 1: Nar mit Brücke über den Indus, vom linken Ufer des Indus aus photographiert. Auf dem von links aus gesehenen zweiten, kleineren Bergvorsprung befand sich die heute völlig zerstörte Festung von Nar (Oktober 2007)

 Nar

Nar (auch Narh, Nur und Nurr geschrieben) ist eine in Baltistan (Klein-Tibet) gelegene Ortschaft und liegt auf der rechten Seite des Indus zwischen Kiris und Shigar. Nar ist der letzte westliche Ort auf dem alten Verbindungsweg zwischen Khaplu und Shigar und war gleichsam das östliche Eingangstor zum Königreich Shigar. Ausgestattet mit einer hochgelegenen Bergfestung (Khar, tibetisch: mkhar) war es für etwa zwei Jahrhunderte das häufig umkämpfte, östliche Bollwerk dieses Königreiches. Seit einigen Jahrzehnten ist dieses Dorf  über eine moderne, mit dem Auto befahrbare Brücke von der am linken Ufer des Indus verlaufenden Straße. die von Skardu nach Khaplu führt, leicht zu erreichen. Heute erscheint dem Besucher Nar als ein malerisches Dorf, das aber von ausländischen Besuchern wenig frequentiert wird.

Inhaltsverzeichnis

1. Die Festung von Nar als östliches Bollwerk von Shigar
2. Buddhistisches Felsbild von Nar
3. Moschee und Heiligengrab
4. Der Ort und seine Bewohner
5. Literatur

Abbildung 2: Die Lage vom Nar (Narh) auf dem gestrichelt eingezeichneten alten Verbindungsweg auf der rechten Seite des Indus zwischen Kiris und Shigar. Die rote Linie kennzeichnet die moderne Landstraße, von der heute Nar über eine Brücke über den Indus erreichbar ist. Der alte Verbindungsweg führte von Kiris auf der rechten Seite des Shayok bis nach Saling, das gegenüber von Khaplu gelegen ist.  

 1. Die Festung von Nar als östliches Bollwerk von Shigar

Siehe den Hauptartikel  Wohnburgen und Bergfestungen (Khar) in Baltistan (Klein-Tibet)

Die Geschichte von Baltistan war bis etwa 1820 über Jahrhunderte hinweg geprägt von militärischen Auseinandersetzungen zwischen den Königreichen Skardu, Shigar, Kiris, Khaplu und Karthaksho. Im Vordergrund stand meist das Bestreben der Könige von Skardu, Baltistan unter ihrer Herrschaft zu vereinigen, was im 18. Jahrhundert regelmäßig auf Bitten der Herrscher von Khaplu zu Interventionen von Truppen von Ladakh führte.  Nar war dabei wie viele andere Orte auf dem Verbindungsweg  von Khaplu nach Shigar entlang des rechten Ufers der Flüsse Shayok und Indus von diesen Kriegen besonders betroffen, zumal seine Festung häufig umkämpft war.

      

Abbildung 3: Lage der Festung von Nar auf einer vorgestreckten Felsnase mit dem Teleobjektiv von der linken Seite des Indus aus photographiert (Oktober 2008)

 

Abbildung 4: Ehemaliger Standort der Festung von Nar (Oktober 2008)

 

Abbildung 5: Trümmerreste der vermutlich von den Dogra nach 1840 völlig zerstörten Festung von Nar (Oktober 2008)

 Die ersten Ereignisse, mit denen die Ortschaft Nar anhand von Quellen belegt aus dem Dunkel der Geschichte in Erscheinung tritt, datieren in die 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Im Rahmen der viele Jahre dauernden miltärischen Auseinandersetzungen zwischen Sher Khan, dem faktischen Herrscher von Skardu, und Imam Quli Khan von Shigar unternahm Sher Khan nach dem Bericht des Shigar Nāma (Behrouz, S. 204) den erfolglosen Versuch, Nar zu erobern. Im Zusammenhang mit der Rückeroberung von Kiris durch Imam Quli Khan wird berichtet (Behrouz, S. 210), dass dieser Herrscher zunächst in Nar Stellung bezog.  

Die nächste bekannte Erwähnung datiert in das Jahr 1762. In dieser Zeit unternahm Zafar Khan, der Raja von Skardu, erneut einen Versuch, mit Unterstützung  des Königs von Kartaksho das Königreich von Shigar zu erobern. Saadat, der Herrscher von Kartaksho, hatte entlang des Indus nach Norden vordringend den Fluss überschritten und sich in der „gelben Burg“ von Nar (Nar-sa ser gyi mkhar)  festgesetzt. Der ladakhische Heerführer nang-gtso Trashi (bKra-shis), vom König Tshewang Namgyel (Tshe-dbang rnam-rgyal) von Ladakh zur Befreiung von Shigar entsandt, drang, von Ladakh aus kommend, entlang des Indus nach Baltistan vor, überwand die militärischen Bollwerke in Kartaksho und eroberte schließlich die Festung von Nar, wobei er dort den König Sadaat und achtzehn seiner Soldaten gefangen nahm. Damit war der Weg nach Shigar freigekämpft. Die Truppen von Ladakh waren insofern erfolgreich, als der König von Skardu bei ihrem Eintreffen die Flucht ergriff.

1806 kam es erneut zu einer militärischen Expedition von ladakhischen Truppen gegen Skardu, welches inzwischen von Ahmad Shah regiert wurde. Die diesmal von Khaplu auf der rechten Seite der Flüsse Shayok und Indus vorrückenden Truppen aus Ladakh belagerten die Burg von Nar, während ihre Heerführer nach Skardu weiterreisten, um mit Ahmad Shah einen Friedensschluss auszuhandeln. Im Ergebnis wurde die Burg von Nar den ladakhischen Truppen übergeben, die dort einen eigenen Burgvoigt (mkhar-dpon) einsetzten.

   

Abbildung 6: Mauerreste der zerstörten Festung von Nar (Oktober 2008)

 

Abbildung 7: Felsbild im Bereich der zerstörten Festung von Nar (Oktober 2008)

 1815 kam es wiederum zu einem Feldzug Ladakhischer Truppen gegen Skardu, den der ladakhische Heerführer Nono Tamdrin Namgyel (no-no rTa-mgrin rnam-rgyal) mit der Einnahme von Kiris und Nar durch seinen Offizier Nono  Tendzin (no-no bsTan-´dzin) erfolgreich beendete. Nach dem Friedensschluss verblieb in der Burg von Nar eine ladakhische Besatzung von etwa einhundert Soldaten. Ahmad Shah nutzte dies und lies die Festung von ihren Nachschubwegen abschneiden, was letztendlich zur vollständigen Übergabe der Burg und der Gefangennahme ihrer Besatzung im gleichen Jahr führte. Der danach geschlossene Friedensschluss hatte zur Folge, dass Ladakh nicht mehr in die internen Angelegenheiten Baltistans eingriff, welches  in den Folgejahren von Ahmad Shah vollständig erobert wurde. Zu der Freilassung der in Nar gefangen genommenen ladakhischen Soldaten berichten ladhakische Quellen folgendes. „Indem (Nono Tendzin) dreimal Leute nach Skardu entsandte, konnte er mit zahlreichen besänftigenden und drohenden Vorgehensweisen die Männer, die (sogar) Kleider und Schuhe trugen, restlos in die Heimat zurückbringen.“

Nach 1840 wurde die Burg von Nar, wie alle bedeutsamen Festungsanlagen in Baltistan, von den Dogra zerstört.

2. Buddhistisches Felsbild von Nar

Im Oktober der Jahres 2007 wurde von Dieter Schuh während seiner ersten Baltistan-Reise ein farbiges buddhistisches Felsbild photographiert. Es stellt eines der wichtigsten Zeugnisse für die buddhistische Kultur in Baltistan dar und geht möglicherweise auf das tibetische Mittelalter des 10. bis 14. Jahrhunderts zurück. Für eine besondere Dokumentation siehe den Artikel Buddhistisches Felsbild in Nar (Baltistan). und den Hauptartikel Altertümer von Baltistan.

Abbildung 8: Gesamtansicht des Felsbildes von Nar (Oktober 2007)

 3. Moschee und Heiligengrab

Siehe die Hauptartikel Traditionelle Moscheen (Masjid) in Baltistan (Klein-Tibet) und Astana-Grabmonumente in Baltistan (Klein-Tibet)

Nach einer Überquerung der Indus-Brücke, was mit dem Pkw ohne Probleme möglich ist, erreicht man nach kurzer Fahrt durch Felder den großen Dorfplatz von Nar. Im Oktober des Jahres 2007 fiel mir die am östlichen Ende dieses Patzes errichtete alte Moschee auf, die in einer für Baltistan typischen Fachwerkbauweise errichtet war.

Bauwerke, die, wie die Moschee von Nar, im alten Fachwerkstil errichtet sind, sind in Baltistan häufig anzutreffen. Ein wichtiges Beispiel für diese Bauweise ist der Palast von Shigar. 

      

Abbildung 9: Östlicher Eingang der alten Moschee von Nar (Oktober 2007)

 

Abbildung 10: Nordseite der alten Mosche von Nar (Oktober 2007)

 

Abbildung 11: Westseite der alten Moschee von  Nar (Oktober 2007) 

 

 Um so erstaunter war ich, als ich im Oktober 2008 feststellen mußte, dass die alte Moschee inzwischen abgerissen worden war und durch ein neues Bauwerk ersetzt wurde. Die Holzteile der alten Moschee lagen auf dem Dorfplatz und wurden zum Verkauf angeboten. Die Umgebung des östlich der Moschee befindlichen, zerfallenen Heiligengrabes machte allerdings nun nicht mehr den Eindruck eines Müllplatzes, sondern war beräumt und gereinigt.

      

Abbildung 12: Westseite der neuen Moschee (Oktober 2008)

 

Abbildung 13: Ostseite der neuen Moschee (Oktober 2008)

 

Abbildung 14: Zerfallenes Heiligengrab (Oktober 2008)

 

      

Abbildung 15: Überreste der alten Moschee zum Verkauf angeboten (Oktober 2008)

 

Abbildung 16: Kapitel der alten Moschee (Oktober 2008)

 

Abbildung 17: Inventar der alten Moschee, als Sperrmüll angeboten (Oktober 2008)

 4. Der Ort und seine Bewohner

Nar wurde zum ersten Mal auf der im Jahre 1842 von John Walter nach den Angaben von Godfrey Thomas Vigne im Auftrag der East India Company erstellten Karte „Kashmir; With its Passes; Ladak & Little Tibet, The Mountain Course of the Indus; and the Alpine Pajab generally“ mit der Bezeichnung „Nur“ aufgeführt. Am 10 November 1847 passierte Thomas Thomson (S. 215, 225f) diesen Ort, zu dem er schreibt: „ I passed through the village of Nar, which extend for more than two miles on the surface of an alluvial platform…“ Der Ort ist auch auf der Karte verzeichnet, die seinem 1852 erschienenen Buch „Western Himalayas and Tibet“ beigefügt ist. Conway (S. 582) beobachte den Ort (Nurr) von der linke Seite des Indus, als er dort am 14. September 1992 auf dem Weg nach Kargil vorbeireiste. Jane E. Duncan erwähnt diesen Ort in der Beschreibung ihrer im Jahre 1904 unternommenen Reise nach Baltistan. Arora (1940) erwähnt Narh als erste Zwischenstation der Reiseroute von Skardu nach Khaplu. 

      

Abbildung 18: Dorfstrasse in Nar (Oktober 2008)

 

Abbildung 19: Grenzmauern eines Grundstücks (Oktober 2008)

 

Abbildung 20: In traditioneller Bauweise errichtetes Haus (Oktober 2007)

 

   

Abbildung 21: Herbstliche, abgeerntete Felder (Oktober 2007)

 

Abbildung 20: Pflügen der Herbstfelder mit zwei Dzo (Oktober 2008)

 Nach der Volkszählung des Jahres 1951 hatte das damals dem Shigar Niabat zugerechnete Nar 926 Einwohner. 1961 zählte man 1008 Bewohner. Heute dürfte die Einwohnerzahl wesentlich größer sein. Nar hat eine Schule, eine Schreinerei und eine Getreidemühle. Der Ort gehört zu den malerischen Dörfern, die sich entlang des Shayok und des Indus befinden.

      

Abbildung 21: Älterer Herr aus Nar (Oktober 2008)

 

Abbildung 22: Reisigsammler (Oktober 2007) 

 

Abbildung 23: Zwei Frauen aus Nar (Oktober 2008)

 

      

Abbildung 24: Fliegende Teppichhändler bieten ihre Ware zum Verkauf an (Oktober 2007)

 

Abbildung 25: Schreinerei (Oktober 2008)

 

Abbildung 26: Getreidemühle (Oktober 2008)

 

      

Abbildung 27: Kleinkinder aus Nar (Oktober 2008)

 

Abbildung 28: Fremde Besucher locken die Kinder an (Oktober 2008)

 

Abbildung 29: Schuljungen in Nar (Oktober 2008)

 5. Literatur

Banat Gul Afridi: Baltistan in History. Peshawar 1988
Koshrow Behrouz: Shigar- Nāma. Eine persische Verschronik über die Geschichte Baltistans. Kritische Textausgabe, Kommentar und Übersetzung. Unveröffentlichtes Manuskript aus den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts.
William Martin Conway: Climbing and exploration in the Karakoram-Himalayas, with three hundred illustrations by A. D. McCormick and a map, London 1894.
Jane E. Duncan: A Summer  Ride through Western Tibet. London – Glasgow 1913.
Dieter Schuh: Herrscherurkunden und Privaturkunden aus Westtibet (Ladakh), Halle 2008 (= Monumenta Tibetica Historica, Abteilung III. Diplomata, Epistolae et Leges, Band 11)
Dieter Schuh: Die Herrscher von Baltistan (Klein-Tibet) im Spiegel von Herrscherurkunden aus Ladakh. In: Chomolangma, Demawend und Kasbek. Festschrift für Roland Bielmeier zu seinem 65. Geburtstag. Band 1: Chomolangma, Halle 2008, S. 165-225.
Thomas Thomson: Western Himalaya and Tibet; A Narrative of a Journey through the Mountains of Northern India during the Years 1847-8. London 1852.

Autor: Dieter Schuh, 2010. Landkartennachweis: Ausschnitt aus "India and Pakistan" (Jammu and Kashmir) Ni-43-03. 1:250.000. Mundik. Alle anderen Abbildungen von Dieter Schuh.

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